Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
noch viel schneller als erwartet.
Jetzt begriff Kafka plötzlich, dass diese Verbindung auch sein Leben nachhaltig verändern würde. Er hatte sich zurückgezogen in diesem Herbst, hatte keine neuen Bekanntschaften geschlossen, dafür alte vernachlässigt, war isoliert wie noch niemals in seinem Leben. Die häufigen Abende bei Brod und die gelegentlichen Treffen bei Baum waren allmählich zu Gewohnheiten geworden, über die man nicht mehr nachzudenken brauchte, weil sie eingerichtet schienen für die Ewigkeit. Doch unversehens gab es eine deadline . Vor Weihnachten noch würde man Verlobung feiern bei den Brods, Anfang Februar dann schon Hochzeit, Max schleppte den Freund durch Prager Möbelhandlungen, bat ihn als Zeugen zum Notar, es mussten Wohnungen besichtigt und begutachtet werden – eine unerwartete Lehrstunde {239} für Kafka, dem vor Augen geführt wurde, was es praktisch bedeutete, als männlicher Bürger einen eigenen Hausstand zu gründen, und der plötzlich verstand, dass die Ehe nicht nur innerhalb der Verwandtschaft – die kannten ja nichts anderes –, sondern auch innerhalb des engsten Freundeskreises eine soziale Form von beträchtlichem Wirkungsradius war. Ein Freund, der heiratete, konnte beim besten Willen nicht mehr alle Türen offen lassen. Zu abendlicher Stunde in Brods Familie zu erscheinen, sich dort auf dem Kanapee auszustrecken, ein wenig mitzuplaudern und sich schließlich vom nachdrücklichen Gähnen aller Anwesenden wieder vertreiben zu lassen – das würde in der neuen Wohnung, die Max jetzt unweit von Kafkas Büro anmietete, einfach nicht mehr möglich sein. »Schliesslich wird er mir doch wegverlobt«, schrieb Kafka an Felice unter dem Eindruck der Feier und in durchaus richtiger Vorahnung – auch wenn der Bräutigam selbst das ganz anders sah und dem Freund sogar noch Vorhaltungen machte: An dessen zurückgezogenem Leben allein liege es, wenn jetzt eine gewisse Entfremdung sich leise bemerkbar mache. Da täuschte sich Brod. Und als zwei Jahre später diese Konstellation sich wiederholte und nun auch Felix Weltsch von den Eltern wegging, um zu heiraten, da hatte Kafka schon Erfahrung genug, um zu wissen, was das bedeutete: »Ein verheirateter Freund ist keiner.« [205]
Ein wenig verlassen wurde es jetzt um ihn. Wenn er an seinem Schreibtisch saß und der fernen Geliebten darüber klagte, dass Brod nun leider an anderes zu denken hatte, da hörte er – kaum gedämpft durch die Stubentür –, dass auch nebenan immer öfter vom Heiraten gesprochen wurde. Denn auch bei den Kafkas stand wieder einmal eine Hochzeit bevor: Valli, die Zweitälteste, die seit Mitte September mit einem acht Jahre älteren Angestellten verlobt war, würde Ende des Jahres die Familie verlassen und eine eigene Wohnung beziehen. Dann bliebe nur noch Ottla. Doch ehe es so weit war, nahmen Lärm und Unruhe natürlich stetig zu, viel war zu besprechen und zu organisieren, und Josef Pollak, Kafkas neuer Schwager, führte seine eigenen Verwandten ein, was mit vielem Händeschütteln, lauten Ansprachen, guten Wünschen und wie üblich mit eisernem Lächeln auf Seiten des großen Bruders Franz verbunden war. Ganz aufrichtig war die Begeisterung freilich bei niemandem. Pollaks Familie lebte in Böhmisch Brod und zählte zum Landjudentum – von hier war für die mühsam sich über Wasser haltende Asbestfabrik gewiss keine Hilfe {240} zu erwarten, und die Klagen Hermann Kafkas, der sich anderen Anschluss erhofft hatte und der für eine respektable Mitgift wieder einmal tief in die Tasche greifen musste, waren noch keineswegs verstummt.
Seinen Sohn ließ das kalt, der hatte andere Sorgen. Denn Pollak, im familiären Kreis »Pepa« oder »Pepo« genannt, hatte zu Kafkas Verzweiflung eine laute und alle Wände mühelos durchdringende Stimme. Sobald er in der Wohnung war, gab es keinen stillen Winkel mehr, und wenn über die riesige Liste von Hochzeitsgästen stundenlang verhandelt wurde, dann nützte es Kafka gar nichts, sich kurz angebunden aus allem herauszuhalten und die Tür zu seinem Zimmer fest zu schließen: Name für Name grub sich in sein Gehör, und der dringend notwendige Nachmittagsschlaf war wieder einmal dahin.
Freilich, es war diesmal nicht nur der Lärm, der Kafka zu schaffen machte. Die Umtriebe im Wohnzimmer nebenan und Brods plötzliche Zielstrebigkeit erinnerten ihn ja beständig an seine eigene Furcht vor der Bewährungsprobe einer öffentlich eingegangenen und sanktionierten Verbindung, und
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