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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Zeit genug war, den Verleger persönlich einzuschalten. Stattdessen hatte ein gewisser Meyer diesen Brief unterzeichnet, »Ihr Ihnen ganz ergebener Meyer«. Und als Kafka die Zeitschrift durchblätterte, traute er seinen Augen kaum: DIE VERWANDLUNG war tatsächlich abgedruckt worden, in voller Länge und ohne dass er je eine Korrekturfahne gesehen hätte.

    Georg Heinrich Meyer, 47 Jahre alt, war ein gutmütiger, etwas umständlicher, dabei umtriebiger Kaufmann mit jovialem Schnauzbart und freundlich-paternalistischen Umgangsformen. Ein Mensch, den niemand der Verstellung für fähig hielt und der darum leicht Vertrauen gewann – wenngleich sein beständig zur Schau getragener Optimismus doch ein wenig verdächtig anmutete. Denn dass der gelernte Buchhändler bereits mit zwei eigenen Verlagen Schiffbruch {49} erlitten hatte und völlig verschuldet war, blieb in der Branche kein Geheimnis.
    Umso überraschender, dass Kurt Wolff nun ausgerechnet diesen Mann zum Geschäftsführer und zu Beginn des Krieges auch zu seinem Stellvertreter bestimmt hatte. Wobei Meyer aus seinen gescheiterten Unternehmungen noch nicht einmal eigene zeitgenössische Autoren ›mitbringen‹ konnte. Denn so sorgfältig ausgestattet seine Bücher auch waren, so bieder war sein literarisches Programm gewesen, und die von ihm besonders geschätzte Heimatliteratur – er hatte sogar eine Zeitschrift mit dem Titel Heimat verlegt – stand in geradezu groteskem Gegensatz zu der avancierten Moderne, die er nun bei Wolff zu vertreten hatte. Zu schweigen davon, dass Meyers frühere Autoren jetzt überwiegend patriotischen Schund produzierten, während Wolff sich als einziger bedeutender deutscher Verleger der affirmativen Kriegsliteratur konsequent verweigerte. Allenfalls einige bibliophile Schmuckstücke bot Meyers Konkursmasse, ansonsten war Wolff gut beraten, auch weiterhin auf seinen eigenen Maßstäben von literarischer Qualität zu bestehen und sich programmatische Entscheidungen vorzubehalten, auch wenn die Verständigung, vor allem das Hin- und Hersenden von Manuskripten, jetzt außerordentlich mühsam war und schnelle Entscheidungen gar nicht mehr zuließ. Es kam vor, dass Meyer in die belgische Etappe reiste, um Wolff auf dem Laufenden zu halten, doch nachdem der Verleger im April 1915 ins galizische Kriegsgebiet versetzt wurde, war auch diese Möglichkeit abgeschnitten, und fortan musste Meyer das verlegerische Tagesgeschäft einschließlich der ›Pflege‹ der Autoren nahezu allein bewältigen.
    Die Blicke, die Franz Werfel, Kurt Pinthus und Walter Hasenclever einander zuwarfen, als der hemdsärmelige Meyer seinen Einstand gab, kann man sich vorstellen. Und doch sollte Wolff mit seiner befremdlichen Entscheidung recht behalten. Denn Meyer, der einige Jahre lang im Auftrag der Deutschen Verlags-Anstalt von Buchhandlung zu Buchhandlung gereist war, verfügte über enorme kaufmännische Erfahrung, und aus zahllosen Gesprächen hatte er eine sehr genaue Vorstellung davon, was die Sortimenter beeindruckte und was bei einem Publikum, dessen Leseverhalten sich zunehmend von Kulturmoden und Publicity bestimmen ließ, tatsächlich ›ankam‹. Diese Kompetenz war es offenbar, die Wolff gesucht hatte. Und {50} es ist zweifelhaft, ob sein Verlag, der weder Kriegslyrik noch gesammelte Feldpostbriefe, noch die beliebten Erlebnisberichte von der Front zu bieten hatte, das erste Kriegsjahr wirtschaftlich unbeschadet hätte überstehen können ohne Meyers schlagende Verkaufsideen. Während er die Leser von Tageszeitungen mit großflächigen Inseraten beeindruckte – mit Inseraten nicht für den Verlag, wohlgemerkt, sondern für einzelne Neuerscheinungen, was bislang völlig unüblich war –, köderte er die Buchhändler mit Sonderrabatten, die geradezu den Bruch eines ökonomischen Tabus darstellten und die auch prompt zu Beschwerden führten über die ›amerikanischen Vertriebsmethoden‹ des Kurt Wolff Verlags. Wer von Gustav Meyrinks Bestseller DER GOLEM dreißig Exemplare bestellte und bezahlte, bekam vierzig Exemplare geliefert: Jeder Buchhandelslehrling konnte an den Fingern abzählen, dass dies (ausgehend vom Ladenpreis) auf den unglaublichen Rabatt von 55 Prozent hinauslief. Auch Meyers Plakataktionen an Litfaßsäulen erregten Anstoß, weil damit Literatur erstmals als pures Medienereignis ausgerufen und in seinem Sensationswert dem Kinofilm gleichgestellt wurde. Die Werbetexte, die Meyer überwiegend selbst verfasste, verstärkten noch

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