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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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diesen qualvollen Bewegungen hin- und herreiße.
Man sah ihnen bedauernd, aber mehr oder minder gedankenlos nach, um so mehr, als sich solche Erscheinungen mehrten und fast ein Bestandteil des Straßenlebens wurden. Es fehlte eben jemand, der hier die notwendige Belehrung gab und etwa folgendes sagte … «
    Worte aus der Feder des Vizesekretärs Kafka, die einleitenden Sätze eines Spendenappells, abgedruckt in einem Provinzblatt. [64]   Suggestive Worte sind es, die den Leser mit einem vertrauten Bild und einem zugehörigen Gefühl ergreifen, buchstäblich einfangen. Darin hatte er Übung. Neu war allerdings das Sujet, mit dem er ein Minenfeld kollektiver Emotionen betrat, und hier bedurfte es tatsächlich einiger Belehrungen über den Ernst der Angelegenheit.
    Es war seit langem bekannt, dass Verwundungen und andere traumatische Erlebnisse zu gravierenden, teils skurrilen ›hysterischen‹ Reaktionen führen können, die mit ihrem Auslöser in gar keinem Zusammenhang zu stehen scheinen: Weinkrämpfe und Erbrechen, Apathie, Lähmungen, Phantomschmerzen, Bettnässen, Angstattacken – Derartiges hatte es auch in den Kriegen von 1866 und 1870/71 schon vereinzelt gegeben. Auch Eisenbahnunglücke und schwere Arbeitsunfälle hinterließen bisweilen zwar körperlich ›geheilte‹ (was Amputationen wiederum einschloss), psychisch jedoch stark veränderte oder gestörte Menschen, die als Arbeitskräfte nicht mehr zu gebrauchen waren. Eine überzeugende Erklärung solcher Fälle hatte die Wissenschaft bislang nicht zu bieten; teils wurden sie mit {83} dem Etikett ›seelische Minderwertigkeit‹ erledigt, teils wurde der Verdacht der Simulation ins Feld geführt, insbesondere, seit auch seelische Verletzungen den Anspruch auf eine Unfallrente begründeten.
    Mit Beginn des Weltkriegs und der lawinenartigen Verbreitung von ›Kriegsneurosen‹ änderte sich dieses Bild so durchgreifend, dass die Ärzteschaft zumindest öffentlich ihre methodische Jagd auf Simulanten und ›Rentenneurotiker‹ eine Zeitlang einstellte: Zu massenhaft und zu massiv waren die psychischen und psychomotorischen Ausfallerscheinungen, welche durch Schockerlebnisse des technisierten Krieges und durch nervenverschleißendes Trommelfeuer ausgelöst wurden: Gesichtszuckungen, Stottern, Stummheit, Taubheit und Blindheit, insbesondere aber der von Kafka so eindringlich beschriebene ›hysterische Schütteltremor‹ mit heftigem Zittern und unkontrollierten Schleuderbewegungen, die über Monate und Jahre unvermindert andauern konnten. Diese ›Kriegszitterer‹, wie sie bald hießen, waren tatsächlich schon 1915 zu einem »Bestandteil des Straßenlebens« geworden, ein Anblick, der Gewöhnung und Abgrenzung viel schwerer machte als etwa die öffentliche Präsentation blutiger Verbände oder leerer Ärmel. Die Leiden des Kriegszitterers erschienen gleichsam nackt; es war, als zwinge er das Publikum, in eine offene Wunde zu starren, und der Staat rächte sich, indem er das Verwundetenabzeichen zumeist verweigerte.
    Wohin mit diesen Leuten? Sofern sie in den Fängen der Militärpsychiatrie verblieben, wurden ›traumatische Neurosen‹ häufig eher bekämpft als therapiert, wobei man auch vor schweren Stromschlägen, Scheinoperationen, Auslösen von Erstickungsanfällen und wochenlanger totaler Isolation nicht zurückschreckte. Über diese Quälereien, bei denen es gelegentlich auch Todesfälle gab, wurde die Öffentlichkeit nur vage und in euphemistischen Umschreibungen unterrichtet, und selbst diejenigen Fachleute, die das extrem schmerzhafte ›Faradisieren‹ mit Wechselstrom ablehnten (die berüchtigte ›Kaufmann-Kur‹), hatten keine Zweifel daran, dass es sich um grundsätzlich legitime Therapieversuche handelte.
    Allerdings war es der Initiative einzelner Ärzte überlassen, diese neuen Methoden zu testen und zu verfeinern – in Prag beispielsweise Dr.Wiener, der in einem kleinen, im Rudolfinum untergebrachten Reservespital tätig war. Was sich hier abspielte, wenige {84} Minuten von Kafkas Büro entfernt, mit welchen Maßnahmen die traumatisierten »heimkehrenden Krieger« am Heimkehren gehindert wurden, blieb wohl den Prager Passanten verborgen (sofern dafür gesorgt war, dass die Schmerzensschreie nicht durch die Wände drangen), keinesfalls aber dem für Heilbehandlungen neuerdings zuständigen Versicherungsbeamten. Und selbst wenn es Kafka erspart geblieben ist, den Fortschritt der psychiatrischen Wissenschaften in actu zu verfolgen – das

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