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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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war Sache der Amtsärzte –, so geriet er doch hier erstmals in handgreiflichen Kontakt zu einer Gegenwelt, in der Blut und blitzende Instrumente, körperliche Qualen und dezent surrende Apparate, Archaik und letztes technisches Update sich verschränkten. Er wusste, dass diese Welt einst seine eigene imaginative Schöpfung war, im Herbst 1914, auch wenn er sie in eine exotische STRAFKOLONIE verlegt hatte. Doch dieses hier, zwei, drei Jahre später, war Wirklichkeit, und es war Folter, nach heutigen Begriffen und gewiss auch nach den seinen. Zurück aus den Tropen, angekommen in der Prager Altstadt. [65]  
    Im weitläufigen Garnisonsspital auf dem Hradschin, der wichtigsten zuständigen Institution in Prag, war man von derartigem therapeutischem Furor gottlob noch weit entfernt. Da die wenigen Nervenärzte völlig überfordert waren, ging es hier vor allem darum, das rasch anschwellende Problem zu delegieren, das heißt auf bequeme Weise loszuwerden. Wobei es als besonders lästig empfunden wurde, Verwundete und Kriegsneurotiker in ein und demselben Gebäude behandeln zu müssen, denn man fürchtete ›Ansteckung‹. Schließlich wurden den Nervenkranken einige Holzbaracken am Belvedere zugewiesen, die unter militärischer Aufsicht verblieben, deren Ausbau und Unterhalt man aber gerne der ›Staatlichen Landeszentrale‹ überließ. So entstand das ›Nervenheilprovisorium Prag-Belvedere‹ mit zeitweilig 800 Patienten, die mit elektrischen Massagen, Schwitzbädern, Quarzlampen, Diathermie und Hydrotherapie behandelt wurden – mit den Maßnahmen des zeitgenössischen Sanatoriums also, die etlichen Herren in der Arbeiter-Unfallversicherung aus eigener Erfahrung wohlvertraut waren.
    Die geforderte Lösung für das gesamte Königreich Böhmen war dies natürlich nicht, und mit den geringfügigen Subventionen, zu denen das Innenministerium sich bereitfand, war eine solche Lösung auch nicht zu verwirklichen. Alexander Marguliés, der Chef des ›Nervenheilprovisoriums‹, {85} schlug vor, ein großes Sanatorium aufzukaufen und umzubauen. Das war denkbar nur mittels Spenden. Doch wer würde in diesen inflationsgeplagten Zeiten sein Erspartes in eine anonyme Behörde tragen, auch wenn dort so freundliche Leute saßen wie in der Unfallversicherung? Das war, als beschenkte man eine Bank. Pfohl und Kafka begriffen sehr schnell, dass ihr ›Ausschuss für Heilbehandlung‹ ein anderes, weniger amtliches Aussehen gewinnen musste, um populär und damit spendenwürdig zu werden. Weniger Maßnahme, mehr Philanthropie. Ein gemeinnütziger Verein musste es sein, oder besser noch: zwei Vereine, je einer für die beiden Bevölkerungsgruppen, das machte es leichter, auch an die Solidarität des ›Volkes‹ zu appellieren. Und so entstand für tschechische Patienten der ›Böhmische Verein zur Errichtung eines Volkssanatoriums für Nervenkrankheiten in Böhmen‹, für die deutschen Heimkehrer hingegen der ›Deutsche Verein zur Errichtung und Erhaltung einer Krieger- und Volksnervenheilanstalt in Deutschböhmen‹ – feine sprachliche Unterscheidungen, die jeder gebildete Prager routiniert zu lesen verstand.
    Kafka, wer sonst, übernahm wiederum die Sache der Propaganda; ja, um ein Haar wäre er in den ›Vorbereitenden Ausschuss‹ des deutschen Vereins geraten, wo er sich zwischen einem Reichstagsabgeordneten, einem Hauptmann, einem Hofrat und einem Großindustriellen wiedergefunden hätte, was er rechtzeitig zu verhindern wusste. Doch auch Marschner saß in dieser erlesenen Runde, und nachdem beschlossen worden war, einen neuerlichen feurigen Spendenaufruf mit möglichst vielen und möglichst renommierten Unterschriften zu veröffentlichen, brauchte man sich über die Frage des Verfassers nicht lange den Kopf zu zerbrechen: Ja, wir haben da einen Beamten in der Anstalt, sprachlich sehr versiert, vorzüglich brauchbar als Protokollführer, er dichtet auch, hat einmal sogar einen Preis bekommen …
»Volksgenossen!
Der Weltkrieg, der alles menschliche Elend gehäuft in sich enthält, ist auch ein Krieg der Nerven, mehr Krieg der Nerven als je ein früherer Krieg. In diesem Nervenkrieg unterliegen nur allzuviele. So wie im Frieden der letzten Jahrzehnte der intensive Maschinenbetrieb die Nerven der in ihm Beschäftigten unvergleichlich mehr als jemals früher gefährdete, störte und erkranken ließ, hat auch der ungeheuerlich gesteigerte maschinelle Teil der heutigen Kriegshandlungen schwerste Gefahren und Leiden für die

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