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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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längere Passage, »so wie ihn die halbe Welt kennt. Aber als er zu einem Gastspiel in unsere Stadt kam, beschloss ich ihn näher, ihn persönlich kennenzulernen.« Rotpeter? Gewiss, das ist der Schimpanse, der im BERICHT FÜR EINE AKADEMIE über seine Gefangennahme und über seine Menschwerdung berichtet. Den kennt tatsächlich die halbe Welt: ein kanonischer Kafka-Text, populär geworden vor allem durch die Solonummern ungezählter Schauspieler. In Kafkas Schulheft indessen tritt der Affe zunächst als Interviewpartner eines Journalisten auf, es folgen zwei andere, thematisch weit entfernte Eintragungen, und dann erst die bekannten einleitenden Worte: »Hohe Herren von der Akademie! Sie erweisen mir die Ehre mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen.« Ohne dass in diesem nunmehr freien Monolog der ebenso unbedarfte wie zudringliche Journalist vergessen wäre. Denn Kafka/Rotpeter bezeichnet ihn unwirsch als einen »der zehntausend schreibenden Windhunde die sich in den Zeitungen über mich auslassen«. [174]  
    Derartige Echos und Spiegelungen sind jedoch nur Nebeneffekte in dem großen Spiel der Formen, das Kafka hier aufführt. Es ist, als sei er entschlossen, alles auszuprobieren, was die Erzähltraditionen nur hergeben – Gleichnis, Fabel, Parabel, Märchen, Bericht, Aufzählung, Monolog und Dialog, Rückblende und Rahmenhandlung, Ich- und Er-Perspektive –, und gleichzeitig scheint er, im Flug durch alle diese Formen, sie gleichsam ineinander zu verwirbeln. Er schmilzt ein, was {170} die Überlieferung ihm zu bieten hat, und gewinnt neue, unerhörte Synthesen: aus Blei wird Gold.
    Man darf das keinesfalls mit Expressionismus verwechseln, erst recht nicht mit der von den Surrealisten wenige Jahre später entdeckten écriture automatique , dem traumwandlerischen Schreiben, das die innerpsychische Zensur überlisten sollte. Bei Kafka bleibt alles unter Kontrolle, und gerade die Vielzahl der Anläufe ist das stärkste Zeugnis dafür, dass er seine Einfälle nach wie vor einer rigiden Auslese unterwarf: Was nicht tragfähig war, nicht bildhaft genug, was keinen organischen Zusammenhang zeigte oder den Verdacht einer bloßen ›Konstruktion‹ erweckte, wurde abgebrochen. Auch ließ sich Kafka niemals dazu hinreißen, an den Fundamenten der Sprache selbst zu manipulieren: keine Erfindungen neuer Wörter, kein leeres Spiel mit Alliterationen, keine Nachahmung des Mündlichen, kein Missbrauch der Grammatik, keine Anhäufungen von Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen. Die deutsche Hochsprache bleibt das von Kafka allein respektierte Medium, dessen Grenzen er niemals willkürlich, geschweige denn um des bloßen Effekts willen überschreitet – die Reise innerhalb dieses Mediums allerdings führt ihn in Regionen, die niemand zuvor betreten hat.
    Das lag zu Beginn dieser ertragreichen fünf Monate gewiss nicht in Kafkas Absicht, und seine ersten Schritte muten unverfänglich genug an. Es war seit Herbst 1912 die dritte intensive Schreibphase, und er wollte einmal etwas Neues versuchen, etwas, das niemand von ihm erwarten, aber auch niemanden schockieren würde. Seine erste Wahl fiel auf die Form des Bühnenwerks. Die gehörte, wie jedermann wusste, zum gewöhnlichen Handwerk des Schriftstellers: Prominente Autoren wie Gerhart Hauptmann und Arthur Schnitzler pendelten zwischen Prosa und Bühnentext, je nach den Erfordernissen des Stoffes, ohne dass man sie darum als Allround -Talente noch eigens bestaunt hätte. Selbst Autoren mit eindeutigen Vorlieben wechselten gelegentlich das Metier – Thomas Mann verfasste ein Schauspiel, Carl Sternheim einige Erzählungen, der Lyriker Rilke hatte einen ganz außerordentlichen Roman veröffentlicht, und Werfel feierte Bühnenerfolge mit seinen TROERINNEN, zu schweigen von Kafkas Impresario Max Brod, der überhaupt nichts ausließ, von der Gespenstergeschichte bis zur zionistischen Lyrik. Warum also nicht ein Theaterwerk?
    Doch der Versuch missglückte. Sosehr sich Kafka auch abmühte – {171} und die beispiellose Anhäufung von Korrekturen und Streichungen offenbart, dass er sich über Wochen hier förmlich festgebissen haben muss –, so sorgfältig er aus dem Textgeröll das Brauchbare immer wieder aussortierte und neu zusammenfügte: DER GRUFTWÄCHTER blieb Fragment, und nur einige wenige Szenen schienen ihm ausgereift genug, um vorgetragen zu werden. Zu diesem Zweck tippte Kafka sogar eigenhändig eine Reinschrift,

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