Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
wenngleich unsicher bleibt, ob die Dialoge tatsächlich irgendjemand zu hören bekam. [175]
DER GRUFTWÄCHTER zählt gewiss nicht zu Kafkas bedeutendsten Leistungen, die Nachwelt hat damit nicht viel anzufangen gewusst, und die Wiederbelebungsversuche durch kleinere Bühnen blieben episodisch. Zu offenkundig ist hier Kafkas Abhängigkeit von Vorbildern (vor allem von Strindberg), zu ungelenk die Konstruktion, zu unfertig das Ganze. Gleich zu Beginn bedarf es eines umständlichen Berichts, um die eigentliche Sensation – die Geistererscheinungen königlicher Vorfahren – annähernd anschaulich zu machen. Das hatte Shakespeare im ersten Akt des HAMLET besser gekonnt. Und Kafka tat gut daran, diese »Unmöglichkeiten«, mit denen er den größten Teil des ersten Hefts gefüllt hatte, sehr bald ad acta zu legen und zurückzukehren zu dem Metier, das er beherrschte.
Er machte damit die Bühne frei für ein imaginatives Feuerwerk ohnegleichen: EIN LANDARZT, DIE BRÜCKE, AUF DER GALERIE, DAS NÄCHSTE DORF, DER KÜBELREITER und EIN BRUDERMORD entstanden im Dezember und Januar. SCHAKALE UND ARABER und DER NEUE ADVOKAT im Februar. EIN ALTES BLATT und ELF SÖHNE im März. DIE SORGE DES HAUSVATERS, EIN BESUCH IM BERGWERK, EINE KREUZUNG und EIN BERICHT FÜR EINE AKADEMIE im April. Nicht zu vergessen das noch aus Riva stammende JÄGER GRACCHUS-Projekt, an dem Kafka von Januar bis April arbeitete, sowie weitere bedeutende Fragmente, darunter DER NACHBAR, DER SCHLAG ANS HOFTOR und BEIM BAU DER CHINESISCHEN MAUER inklusive der KAISERLICHEN BOTSCHAFT, die sämtlich auf Februar oder März zu datieren sind. Eine Ansammlung von Preziosen, die allein schon genügt hätte, wenn nicht den Weltruhm, so doch die weltweite Exegese Kafkas zu begründen, jene demutsvolle, mit Auge und Zeigefinger sich vorwärtstastende Lektüre, die den Text als Offenbarung nimmt und ihn jeder irdischen Kritik ein für alle Mal entzieht. Es waren vor allem die Rätseltexte aus Kafkas Oktavheften, welche die professionellen und {172} dann auch die gewöhnlichen Leser zu einer beständigen, den Buchstaben umwendenden Sinnklauberei verführten – eine Haltung, die nach und nach auf Kafkas gesamtes Werk übergreifen sollte.
Heute, da der kreative Prozess in das Neonlicht der Editionsphilologie getaucht ist, erscheint uns diese Neigung zum Text-Kult als unaufgeklärt und naiv. Kein Bewunderer der VERWANDLUNG oder des HEIZERS wird mehr Zweifel daran hegen, dass diese Werke trotz ihrer sprachlichen Präzision und Elastizität, trotz ihrer formalen Geschlossenheit und scheinbaren Zeitlosigkeit doch einem genetischen Zusammenhang entstammen: Diese Geschichten haben selbst eine Geschichte, sie offenbaren sehr persönliche Erfahrungen, Vorlieben und Besessenheiten ihres Urhebers, und sie sind das Ergebnis eines über Jahre erlernten und geübten Handwerks. Selbst Kafkas Behauptung, er hätte unter günstigsten äußeren Bedingungen das alles noch besser machen können, ist keineswegs von der Hand zu weisen, und man braucht nicht die Korrekturvorgänge in den Manuskripten zu studieren, um derartige Selbstzweifel des Autors zumindest ernstnehmen zu können.
Mit den Prosastücken der Oktavhefte freilich – man zögert, sie noch ›Erzählungen‹ zu nennen – hat Kafka seine Leser den stärksten Versuchungen der Kunstreligion ausgesetzt, wie niemals zuvor und auch niemals mehr danach. Allein die Vielfalt der Motive, Bilder und Themen führt den Verdacht ad absurdum, hier kreise ein Autor allein um sich selbst: Wo sich Variationen und Verwandtschaften finden, sind sie offenkundig gewollt , und selbst die privaten Obsessionen und Spielereien, die es auch hier zu entdecken gibt, zeugen von einer anderen Freiheit als die monochromen Strafphantasien der früheren Werke. Es sind Texte von einer passagenweise beinahe unwirklichen Dichte und Perfektion, Texte, an deren Oberfläche man vergeblich nach irgendwelchen Rückständen ihrer Genese sucht. Jene beiden langen, makellosen Sätze, die unter dem Titel AUF DER GALERIE in zahllose Schulbücher eingingen – nicht auszudenken, dass es hier Korrekturen oder gar Vorstufen gegeben haben könnte (und es ist auch nicht zu überprüfen, da sie nicht überliefert sind [176] .
Auch wer die Oktavhefte selbst heranzieht, wer sich entgegen dem Anschein zu vergewissern sucht, dass selbst diese Offenbarungen nicht zugeflogen, sondern erarbeitet sind, kann sich der heilsamen Desillusionierung keineswegs sicher sein. Der Kontext
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