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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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ist chaotisch, {173} gewiss; die Spuren von Feder und Bleistift beweisen, dass auch hier alles mit rechten Dingen zuging. Aber gerade dort, wo die Perfektion zweifellos, scheint auch der Urheber seiner Sache völlig sicher. So zeigt etwa die Handschrift der KAISERLICHEN BOTSCHAFT so gut wie keine substanziellen Korrekturen – und das, obwohl Kafka sie für den Druck noch einmal besonders kritisch durchsah. Wirklich, es scheint, als sei hier alles von Anfang an da gewesen. Der Autor als Schöpfer. Ex nihilo .

    Gesetzt den Fall, es wäre möglich, einem erfahrenen Leser die Oktavhefte Kafkas unter den Bedingungen einer Blindstudie vorzulegen: Ort, Zeit und Autor unbestimmt. Die Zugehörigkeit zur literarischen Moderne würde dieser Leser wohl mit dem ersten Blick erfassen, ebenso die Anzeichen einer tiefen, das individuelle Schicksal übergreifenden Orientierungskrise. Dass diese Texte in einem Katastrophenwinter verfasst wurden, in einer erbärmlichen Hütte und mit klammen Fingern, nur wenige Minuten entfernt von Warteschlangen hungernder Menschen, in einer verwahrlosten, frierenden, notdürftig beleuchteten und militärisch beherrschten Stadt, von einem mittleren Beamten, der dienstlich mit Amputationen und Nervenschocks zu tun hatte – von alledem würde er kaum eine Spur entdecken.
    Aber, vielleicht, würde er erraten, dass dieser Autor einen Kaiser verloren hat. Davon handelt ausdrücklich EINE KAISERLICHE BOTSCHAFT, eine kurze legendenartige Erzählung, in der selbst der nachdrückliche Befehl des sterbenden Monarchen nicht dazu hinreicht, einen Brief zu seinem Adressaten zu befördern. Ebenso hilflos steht im ALTEN BLATT der Kaiser am Fenster und beobachtet den Untergang seiner Residenzstadt, und im BAU DER CHINESISCHEN MAUER heißt es ausdrücklich: »Das Kaisertum ist unsterblich, aber der einzelne Kaiser fällt und stürzt ab«. Das Dramolett DER GRUFTWÄCHTER spielt kurz nach einem Machtwechsel, ein Jahr erst ist der neue Fürst im Amt, seine Autorität ist schwankend, die eigene Ehefrau verbündet sich mit seinen Gegnern. [177]   Und das kleine Prosastück DER NEUE ADVOKAT erinnert an einen sagenhaften Monarchen und beschwört eine Welt ohne Führung: »Heute – das kann niemand leugnen – gibt es keinen großen Alexander … niemand, niemand kann nach Indien führen … niemand zeigt die Richtung … «
    Es ist charakteristisch für Kafka – und hier liegt gewiss eine der Ursachen {174} jenes Missverständnisses, das ihn als weltfremd und politisch unberührbar qualifiziert –, es ist charakteristisch, dass große, selbst katastrophale Verluste ihn weniger erschüttern als die herausgehobene Signifikanz dieser Verluste: ihre Bedeutung über den Augenblick hinaus und ihre Eigenschaft, den Kern einer ganzen Epoche bloßzulegen. Der Untergang eines großen Symbols, das Ende einer Tradition, die abgeschlagene Spitze der Pyramide – wie die meisten seiner Zeitgenossen erlebte er diese Ereignisse als Zeichen einer irreversiblen Auflösung. Doch auch im alltäglichen Leben beeindruckte und beschäftigte ihn weniger die reale Not und die immer tiefer schneidenden Einschränkungen – all das ertrug er klaglos und mit erstaunlicher Geduld – als vielmehr die Zeichenhaftigkeit dieser Vorgänge. Natürlich war es schlimm, wenn Ottla vom Kohlenhändler mit leerem Kübel zurückkam. [178]   Das war noch niemals geschehen, und es war eine Drohung, die auch Kafka nicht gänzlich ignorieren konnte: Bis unter minus 20 ° Celsius sanken die Temperaturen im Februar 1917, Theater, Kinos und Schulen wurden zeitweilig geschlossen, die Gaszufuhr wurde am Tag, der Straßenbahnbetrieb schon am frühen Abend eingestellt, und des Nachts tastete sich Kafka in völliger Finsternis durch die vereiste und menschenleere Altstadt. Doch die während der schlimmsten Tage niedergeschriebene Erzählung DER KÜBELREITER, in der ein frierendes Ich um Kohle bettelt, wäre dennoch nicht entstanden, hätte Kafka diesen Todeshauch nicht als Signum seiner Zeit erfasst: »hinter mir der erbarmungslose Ofen, vor mir der Himmel ebenso«, heißt es gleich zu Beginn, und dieses ebenso ist kaum misszuverstehen: Leer ist nicht nur der Ofen. Und darum auch kehrt das erzählende Ich nicht in die eigene kalte Stube zurück, sondern verliert sich in unbestimmten »Regionen der Eisgebirge« – nicht anders als der Landarzt der gleichnamigen Erzählung, deren Schlusssatz den hermeneutischen Schlüssel reicht: »Nackt, dem Froste dieses

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