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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich mich alter Mann umher.«
    Kafka erspürt die epochalen Katastrophen hinter denen des Alltags, doch während er sie beobachtet, erleidet er sie auch. Zu einer Zeit, da der Staat seine Untertanen physisch preisgibt und zugleich seinen obersten Repräsentanten verliert, buchstäblich im selben Augenblick beginnt Kafka, sein äußeres Leben und sein Schreiben zu reorganisieren: Er experimentiert, er lässt sich auf neue Formen {175} ein, im Leben wie im Schreiben. Der enge zeitliche Zusammenhang ist verblüffend [179]   , die Koinzidenz offensichtlich, ein bloßer Zufall ausgeschlossen: Kafka reagiert produktiv auf eine Krise, die ihn dazu nötigt, Hemmungen und Gewohnheiten zu überwinden und nach Möglichkeiten des Überlebens zu suchen. Die äußeren Ereignisse – den vielfachen Mangel, den Tod des Kaisers (von dem er den Vornamen hat) – registriert er, wie viele andere, als letzte Bestätigungen dafür, dass es so, wie es war, nicht mehr sein wird; die Folgerung, die er für sich selbst zieht, lautet, dass es so, wie es war, nicht mehr weitergehen kann . Der Verlust zwingt ihn dazu, neue Kräfte heranzuführen; zugleich entfesselt er diese Kräfte und mit ihnen einen Strom von Bildern und Ideen – nicht anders hatte er zwei Jahre zuvor das Debakel im Askanischen Hof überstanden. Aufs Neue kommt jene für Kafka so außerordentlich bezeichnende Dynamik in Gang, die sein Leben prägt, ja, die ihn am Leben hält : eine Dynamik des Ernstfalls. Ein verspäteter Brief, ein Hüsteln im Nebenzimmer lassen ihn wanken; eine untergehende Welt hingegen eröffnet ihm neue Ressourcen, die scheinbar grenzenlos sind.
    Am 24.November 1916, zwei Tage, nachdem er vom Tod Franz Josefs erfahren hat, versucht er Felice begreiflich zu machen, warum eine eigene Wohnung jetzt wichtiger ist als alles andere, wichtiger sogar als die Aussicht auf ein Wiedersehen: »Diese Wohnung würde mir, zwar nicht die innere Ruhe wieder geben, aber doch eine Möglichkeit zu arbeiten; die Paradiestore würden nicht wieder auffliegen, aber ich bekäme vielleicht in der Mauer zwei Ritzen für meine Augen.« [180]   Das Paradies : Es ist das stärkste Bild, das ihm zur Verfügung steht, ein ungeheuerlicher Erlösungsanspruch, den noch kein Mensch zuvor an die Literatur gestellt hat. Doch es ist keine Mauer mehr, das spürt er, die ihn von den ersehnten imaginativen Freiheiten trennt: Noch am selben Tag eilt er hinauf in die Alchimistengasse und öffnet sein erstes, vorläufig leeres Oktavheft, umgeben vom Geruch frischer Farbe.
    Er weiß noch nicht, dass er hier ein halbes Jahr verbringen wird. Und er kann nicht ahnen … oder sagen wir: Er kann ›nach menschlichem Ermessen‹ nicht ahnen, dass er beinahe mit den ersten Worten, die er niederschreibt – es ist eine Bühnenanweisung für den GRUFTWÄCHTER – schon ein unüberbietbar genaues Bild der eigenen Existenz und zugleich das Motto seiner künftigen Arbeit findet: » engste Bühne frei nach oben «.

{340} Meran, 2. Klasse
Das ist noch immer nicht die richtige Einsamkeit,
in der man mit sich beschäftigt ist.
Karl Kraus, SPRÜCHE UND WIDERSPRÜCHE
    Direktor Bedřich Odstrčil war bestürzt. Ein medizinisches Gutachten lag auf seinem Schreibtisch, erstellt vom Amtsarzt Dr.Kodym, und dieses Dokument besagte, dass einer seiner unmittelbaren Untergebenen, der demnächst zum ›Sekretär‹ aufrückende Dr.Kafka, trotz mehrerer Kuraufenthalte nicht nur einen sehr schlechten Allgemeinzustand zeige, sondern überdies »Anzeichen einer fortgeschrittenen Lungeninfiltration«. Entzündetes Gewebe also, das konnte vieles bedeuten, eine schwere Pneumonie hatte der Kollege ja bereits überlebt. Doch das Wort »fortgeschritten« weckte eine Ahnung künftigen Unheils.
    Odstrčil, der Nachfolger Direktor Marschners und ein Vertrauter Masaryks, schätzte Kafka seit langem; für ihn war es selbstverständlich gewesen, dass die Arbeiter-Unfallversicherung auf einen so kompetenten Beamten – sei er Deutscher oder Jude – auch nach dem politischen Umsturz nicht verzichten konnte. Als Anfang 1920 die Behörde neu gegliedert und die juristischen Angelegenheiten an eine zentrale Stelle delegiert wurden, war unbestritten, dass für diese Funktion nur der erfahrene Rechtsexperte Kafka in Frage kam. Natürlich war allen bewusst, dass die Anstalt damit ein gewisses Risiko einging; im Jahr 1919 war Kafka lediglich sieben Monate

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