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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Körpergewicht von 65 Kilogramm – was einer Zunahme von acht Kilo entsprach – ließ er sich nur durch einen medizinischen ›Fragebogen‹ Brods entlocken. »Du schreibst immer vom Gesund-Werden«, schrieb er resigniert. »Das ist ja für mich ausgeschlossen«. [508]  
    Was konnte noch helfen? Ortswechsel wurde ihm von allen Seiten angeraten, gewiss auch von Klopstock; Max Brod schlug sogar einen gemeinsamen dreiwöchigen Urlaub an der Ostsee vor, in Begleitung seiner neuen Geliebten. Unmöglich, antwortete Kafka, das Seeklima habe ihm der Arzt strikt verboten. Dann vielleicht in die Sommerfrische mit Ottla und ihrem Mann? Auch dagegen gab es Bedenken. Kafka schämte sich seines ständigen Hustens und Ausspuckens, und wenn er auch noch immer nicht recht glauben wollte, dass ein kerngesunder Mensch sich mit Tuberkulose infizieren könne, so schien es ihm doch unverantwortlich, Ottlas erstes Kind, die im März geborene Věra, über Wochen einem solchen »Schmutz« auszusetzen. Überdies hatten die Davids als Ferienort das westböhmische Taus (Domažlice) gewählt, an der Nordflanke des Böhmerwalds, und nur gut dreißig Kilometer entfernt davon, per Bahn leicht zu erreichen, lag das Sanatorium, in dem eben jetzt Milena sich kurierte … ausgeschlossen. [509]  
    Kafka blieb unbeweglich, er schlug förmlich Wurzeln, selbst der sommerliche Ansturm der Touristen ließ ihn unbeeindruckt, und irgendwann schien ihm, dass er aus der Hohen Tatra wohl niemals mehr fortkäme, es sei denn, er würde abgeholt oder, besser noch, samt Liegestuhl weggetragen. Kein Zweifel, dass er einem energisch eingreifenden Besucher aus Prag in diesem lethargischen Zustand nur wenig Widerstand geboten hätte – doch niemand fand die Zeit, nach Matliary zu reisen. Ottla wegen ihres Säuglings nicht, dessen unersättliche Gier sie schwächte und zur Verzweiflung brachte. Auch Brod nicht, der nach einem misslungenen Versuch, von Theatertantiemen zu leben, einen Posten beim Pressedepartement der Regierung übernommen hatte, mit geringfügigen Bürostunden, doch zahlreichen Terminen bei tschechischen Musik- und Theateraufführungen. Und erst recht nicht Baum und Weltsch, die lange Zeit von Kafka überhaupt nichts mehr hörten und denen er gleichsam als verschollen galt. Kein einziger Besucher also, ein dreiviertel Jahr lang. Es gab nur Szinay und Klopstock, Dr.Strelinger und Frau Forberger, das Küchenmädchen und den jüdischen Kellner, schließlich ein paar kranke Frauen und einen fidelen Zahntechniker, mit denen er zwei, drei Ausflüge machte. Es gab viel Freundlichkeit, Zuvorkommenheit, sogar Bewunderung. Doch bekam ihn jemand zu fassen, in all den Monaten?
    Noch einmal verzögerte sich die Rückkehr. Am 14.August 1921, etwa eine Woche vor Dienstantritt, erwachte Kafka mit Fieber, auch der Husten wurde wieder stärker, hielt ihn nächtelang wach. Nichts Ernstes, meinte Strelinger, solche Rückfälle kämen vor, der Lungenbefund sei gut. Dennoch musste sich Kafka – das wievielte Mal? – bei seinem Direktor entschuldigen. Endlich, am 26.August, bestieg er den Zug. Nein, abholen in der Tatra brauche ihn niemand, hatte er noch wenige Tage zuvor nach Prag gemeldet, diese Reise schaffe er allein. Das bereute er jetzt. Denn sämtliche Waggons waren überfüllt, fiebergeschwächt musste er zunächst auf einem Koffer sitzen und später sogar stehen. Er war wieder einmal sparsam gewesen, mit einer Fahrkarte 1. Klasse wäre er dieser Strapaze entgangen, das durfte man zu Hause gar nicht erzählen.
    Da ereilte ihn ein kleines Wunder. Ein Abteil 1. Klasse war von vier Passagieren geentert worden, die zwar keinen Anspruch darauf hatten, des stundenlangen Stehens jedoch überdrüssig waren. Diese {436} Reisenden, darunter zwei Eisenbahner sowie eine Frau, die Kafka flüchtig kannte, überredeten den Schaffner, angesichts der desolaten Situation das Abteil freizugeben, das heißt, zur 2. Klasse herabzustufen. Der Beamte mochte das den Kollegen nicht verweigern, schon wollte er eine große »2« an die Tür kleben, doch er hatte mit der Empfindsamkeit seiner Kunden nicht gerechnet. Denn in dem Zugabteil saßen zwei weitere Fahrgäste, die tatsächlich für die 1. Klasse bezahlt hatten, und diese verlangten nun, in ein anderes Abteil geführt zu werden, um nicht mit Inhabern 2. Klasse-Billetts beisammensitzen zu müssen. Dadurch wurden weitere Plätze frei, und der verzweifelte Kafka wurde herbeigerufen, um einen davon in Besitz zu nehmen – eine späte

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