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Kahlschlag (German Edition)

Kahlschlag (German Edition)

Titel: Kahlschlag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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das Gesicht.« Sie nahm die Decke ab, und gemeinsamen hoben sie den Sargdeckel herunter. Marilyn schob das Eis über Petes Gesicht zur Seite. Sunset starrte auf das Einschussloch, das Marilyn mit Kerzenwachs verschlossen hatte. Außerdem hatte sie etwas Rouge auf Petes Wangen und eine Spur Lippenstift auf seinen Mund aufgetragen und den Rest des Gesichts gepudert. Sie hatte das gemacht, bevor die Männer mit dem Eis gekommen waren, und durch das Eis war nun alles verschmiert. Sunset fand, Pete sah aus wie jemand, der sich beim Zirkus bewerben will.
    »Ich habe es ein bisschen übertrieben«, sagte Marilyn. »Aber er sah so blass aus. Und so blau um die Lippen. Das Eis hat alles verwischt. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass wir ihn auf Eis legen. Ich mache es vor der Beerdigung noch mal neu.«
    »Deck ihn wieder zu«, murmelte Karen, stolperte auf die Schlafveranda zu und fing an zu weinen.
    Sunset wollte ihr hinterhergehen, aber Marilyn hielt sie am Arm fest. »Wir müssen ihr jetzt ein bisschen Ruhe gönnen.«
    Sunset nickte.
    Marilyn bedeckte Petes Gesicht wieder mit Eis, hob mit Sunsets Hilfe den Deckel auf den Sarg und legte die Decke darüber.
    Sunset schluckte und fragte: »Kannst du mich um dich haben, obwohl du weißt, was ich getan habe?«
    »Komm, Mädel. Gehen wir ein bisschen auf die Veranda.«
    Sie setzten sich auf die warmen Stufen. Von dort aus konnten sie die Männer und die Tiere sehen, die bei der Mühle schufteten. Die Sägen kreischten, vor allem die Gattersäge in der Haupthalle. In der Luft hing der süßliche Geruch von frischem Sägemehl, der schwarze Rauch vom Kraftwerk und der graue Rauch, der von den Trockenöfen aufstieg. Im Sonnenlicht sah die Luft über der Mühle und über weiten Teilen der Siedlung fast schon grün aus, aber an einigen Stellen, wo der Rauch nicht so dicht war, spiegelte sich die Sonne in den Blechdächern wie ein silberner Blitz, sodass Sunset die Augen zusammenkneifen musste.
    Sie rief sich in Erinnerung, dass Mr. Jones nicht weit weg war – vermutlich saß er da oben im Kontor und erledigte beim Kreischen der Säge irgendwelche Schreibarbeiten. In letzter Zeit fand man ihn meistens im Büro und weniger bei der schweren körperlichen Arbeit. Er kümmerte sich vor allem darum, Leute einzustellen und zu feuern und die Holzverladung zu organisieren. Vermutlich hatte er sich das verdient.
    Dann fiel ihr der Mann wieder ein, der ihr am Fluss begegnet war, und sie fragte sich, ob er wohl wirklich wegen Arbeit nachgefragt hatte. Er war wahrscheinlich ein Hobo, auch wenn er nicht so aussah. Seine Kleidung war nicht gerade neu gewesen, aber man sah ihm an, dass er auf sein Äußeres achtete, und das mit Erfolg. Mit Sicherheit nahm er harte Arbeit nur dann an, wenn ihm nichts anderes übrig blieb. Er war nicht der Typ Mann, der sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als sein Leben hinter dem Pflug mit den Füßen in Maultierscheiße zu verbringen oder eben als Arbeiter in einer Sägemühle.
    Irgendetwas daran gefiel ihr. Doch dann dachte sie: Wenn ich so eine gute Menschenkenntnis habe, wieso habe ich dann Pete geheiratet?
    »Als ich ein Kind war«, unterbrach Marilyn ihren Gedankengang, »beschloss mein Vater, Holz sei die Zukunft. Er wurde oben im Norden geboren, zog aber nach Osttexas und verdiente sich seinen Lebensunterhalt zunächst mit Farmarbeit. Dann hat er sich umgeschaut und gesehen, dass es in diesem Land noch viele Holzhäuser zu bauen gab, und da hat er sich gedacht, am besten investiere ich in eine Sägemühle. Das war gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Er kam hierher und übernahm das Geschäft von ein paar Holzfällern, die die gefällten Bäume den ganzen Weg bis Nacogdoches schleppten. Er stellte sie fest an und baute eine richtige Mühle. Die Mühle wurde ein voller Erfolg. Sie warf Geld ab, und er wurde reich. Mir gehört ein großer Anteil an der Mühle, zusammen mit Jones und Henry Shelby. Aber das weißt du alles.«
    »Ja. Allerdings wusste ich nicht, dass dir die Mühle zum Teil gehört. Vermutlich hätte ich das wissen sollen, aber ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht. Ich konnte mir nie vorstellen, dass Frauen etwas besitzen. Ich habe geglaubt, deine Anteile hätten seit eurer Heirat alle Jones gehört.«
    »Es gibt da noch etwas, das du nicht weißt. Nämlich, dass mein Daddy Jones zu Anfang ganz gern gemocht hat, aber später dann nicht mehr. Deshalb hat er einen Vertrag aufgesetzt, der besagt, dass Jones’ Anteile mir

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