Kairos (German Edition)
nicht nur Opfer der Shumgona, sondern auch ihrer eigenen Schwächen und Ängsten. Die Flüchtlinge hier ebenso wie die Polizisten, die sie verfolgen und auf sie einprügeln.“ Sie deutete in Richtung Ausgang. „Da draußen, jenseits dieser Mauern, tobt ein regelrechtes Massaker. Es gibt nichts, was einem die Angst davor nehmen könnte. Sich zu fürchten, zu glauben, aufgrund dieser Furcht, den Verstand zu verlieren, all das ist normal.“
Nazma erwiderte ihren Blick plötzlich mit viel Haß in den Augen. Dann sah sie sich unsicher um. „Warum erzählst du mir das? Warum jetzt?“
„Nazma, weil ich will, daß du endlich anfängst, diese Leute zu verstehen. Daß du endlich damit anfängst, dich selbst zu verstehen. Ich denke, das ist der einzige sichere Weg, all diese Dinge hier irgendwie heil zu überstehen.“
Nazma konnte nicht glauben, was sie da hörte. Was Sarah-Jem an sie richtete, war zu abwegig, um ernst genommen zu werden. Um sie herum herrschte das blanke Chaos. Sie würden hier drin alle sterben, wenn sie nicht endlich einen Ausweg fänden, und diese Bibelschwester gab ernsthaft hier und jetzt einen ihrer Weltanschauungssermone zum Besten.
Nazma schrie: „Alle haben Recht, wenn sie sagen, du wärestnicht ganz bei Trost! Du bist verrückt!“
„Ich habe dir das Leben gerettet, Nazma.“
„Aber du bist und bleibst eine durchgeknallte Fanatikerin!“
„Ich versuche nur, dir zu helfen. Kannst du das nicht einsehen?“
Nazma schlug Sarah-Jems Hand beiseite und brüllte: „Vielleicht hasse ich all diese Menschen! Vielleicht hasse ich dich!“
„Vielleicht haßt du dich selbst.“
„Was?“, fragte sie nur, auf einmal ganz ruhig und dabei sachte den Kopf schüttelnd. „Du spinnst ja.“
Der Lärm um sie herum wurde immer ohrenbetäubender, die Situation verworrener, gefährlicher und beengender. Menschen schrieen auf und schlugen aufeinander ein. Ihre Umrisse verloren ihre klare Zeichnung und wurden silhouettenhaft. Alles – die Personen, ihre wimmelnden Gliedmaßen, die Umgebung dahinter – verschwand hinter einer Wand aus weißem Rauch; er war beißend und waberte in Bodennähe wie Zigarettenqualm.
„Wir reden später“, sagte Sarah-Jem. „Los jetzt!“
Sarah-Jem zog Nazma grob weiter. Sie bestimmte eine Richtung, irgendeine, die ihr aufs Geratewohl als die Beste erschien – auch wenn es so etwas, wie die beste Richtung nicht mehr gab. Das Coliseum war zu einem schlimmeren Ort geworden, als es die meisten Flüchtlinge für möglich gehalten hatten. Plötzlich war die über ihren Köpfen hängende Kuppel kein solides Symbol mehr für eine florierende menschliche Zivilisation, für deren fortgeschrittene Architektur, sondern wurde zu etwas Bedrohlichem, Bedrückendem. Das Coliseum war zu einem gräßlichen Ort geworden, einem Ort der Gefahr. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten die Menschen ihn dazu gemacht, nicht die Shumgona.
Ohne nachzudenken, zog Sarah-Jem Nazma hinter sich her und lief mit ihr los, immer weiter.
Die nächsten Minuten waren total wirr. Es geschah so viel, und das alles gleichzeitig.
Der Lärm, der von draußen drang, entpuppte sich als ferne, unrhythmisch stotternde Explosionen. Die Grundfesten des Gebäudes erbebten bei jeder Erschütterung, die das nahe Stadtzentrum heimsuchten. Die Skulls waren ganz nah. Der Lärm im Inneren von schreienden Polizisten, der kreischenden Masse, kläffenden Hunde, abgefeuerten Schußwaffen war fürchterlich. Schlimm war: das unheilvolle Potential all dessen war weit größer, als die Summe seiner einzelnen Teile eigentlich hätte sein dürfen, wie etwa der Lärm, die Konfusion und der Rauch. Auf undurchsichtigeWeise war all dies wesentlich schrecklicher, vermutlich aufgrund der unsichtbaren Bedrohung, die sich draußen über alles legte. Alles war von einer aggressiven, hektischen Tatkraft erfüllt, einer unheilvollen Energie, der schon längst erste Menschen zum Opfer gefallen waren. Die beiden Frauen kämpften sich ohne viel Erfolg durch dieses Chaos aus Bosheit und Panik.
Nazmas Blick fiel auf einen Polizeitrupp, der mit Hartgummischlagstöcken auf eine Gruppe schreiender Menschen eindrosch. Jemand warf Teile einer aus der Verankerung gerissenen Sitzbank nach den Polizisten, die darauf zurückwichen. Einer der Beamten griff in eine seiner Westentaschen und förderte eine weitere Tränengasgranate, ein hochexplosives britisches Modell von Pains Wessex, hervor. Als er an dem Stift zog, erklang ein metallisches Schnappen, dann
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