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Kairos (German Edition)

Kairos (German Edition)

Titel: Kairos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gallo
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Aber kein konkretes Bild blieb zurück. Nur der Geruch verbrannten Fleisches, der Gestank von Blut und Tod.
    „Sarah! Nichts wie raus hier!“, überschrie sie das lärmende Chaos, ihrer wunden Kehle und schmerzenden Lunge zum Trotz.
    Sarah-Jem sah auch hoch. Zum Oberlicht. Hinter den riesigen Flächen aus halbopakem Kunststoff tanzten Lichter.
Nein
, stellte sie kurz darauf fest. Sie tanzten nicht, sie schwebten.
    Es waren seltsame Lichter, wie in der Luft verharrende Blitze. Nazma konnte sie nichts zuordnen. Dann kam der Krach. Es begann als fernes Lärmen, mehr fühl- als hörbar. Alles erdröhnte unter einem tiefen, knapp unterhalb der Hörgrenze liegenden Baßton, der die Zähne klappern und den Magen sich verkrampfen ließ. Das Geräusch wurde lauter, höher ... und dann lief ein sehr feines, aber deutlich zu spürendes Vibrieren durch die gesamte Konstruktion. Auch der Boden vibrierte. Und aus dem Vibrieren – zunächst nicht mehr als ein kaum wahrnehmbares Zittern und zu messendes Oszillieren – wurde ein Beben. Er verstärkte sich, dann schien es, als bewegte sich die Kuppel selbst – als schwankte sie ein paar Zentimeter erst in eine, dann die andere Richtung.
    Zunächst glaubte Nazma einen hoffnungsvollen Moment lang, sie wäre einer optischen Täuschung aufgesessen, einer Schimäre, ausgelöst durch das Reizgas oder ihre tränenblinde Sicht. Dann verging der Moment. Nazma mußte sich eingestehen, daß weder das Gas oder Weinen damit zu tun hatten; und plötzlich wußte sie einfach, daß sich das Dach bewegt hatte. Der Instinkt ließ sie einen einzigen heftigen Gedanken sammeln.
Die Kuppel stürzt ein
, dachte sie und deutete panisch nach oben.
    „Warum in aller Welt...“ Sarah starrte weiter hoch, während sie lief. Und das Kuppeldach bewegte sich weiter, diesmal sogar durch den Nebel deutlich sichtbar. „Teufel, was...?“
    „Wir werden alle sterben!“
    Sarah fuhr zu ihr herum. „Ganz sicher ni-“
    In diesem Moment erschütterte eine Explosion die Halle. Nazma spürte irgend etwas in ihrem Kopf reißen. Sie hob eine Hand an die Ohrmuschel. Sie wollte etwas sagen. Einen Wimpernschlag später zerriß ein Feuerball Teile der Dachkonstruktion; Metall, Holz und ganze Mengen von Schutt wurden von der Druckwelle durch die Luft geschleudert. Die Leute holten keuchend Luft. Diejenigen, die der Druckwelle im Weg standen, stürzten um, wie von der Kugel erfaßte Kegel. Einen unglaublich intensiven Augenblick lang verfiel alles einer Starre. Die Flüchtlinge erstarrten. Die Ordnungskräfte erstarrten. Sogar der Nebel schien zu etwas Festem zu werden. Der Moment ging vorüber. Zuerst kam das Getöse, wie von tausend Kesselpauken, begleitet von einem Gefühl, als durchtrennte einem eine Bandsäge die Schädeldecke. Ein Regen aus Hartglasscherben ging auf alle nieder. Man schrie wie ein Wesen auf und stürmte los. Eine Flut von Menschen ergoß sich in Richtung Ausgänge. Niemand verstand, was geschah, aber alle wußten, daß sie sterben würden, wenn sie nur einen Moment zögerten.
    Nazma sah eine Frau mit nach Bäuerinnenart gebundenem Kopftuch, die von einer Gruppe davon stürmender Menschen niedergetrampelt wurde. Sie fiel nach hinten um, all diese Leiber drängten über sie hinweg, begruben sie unter sich. Nazma sah die Frau nicht wieder hoch kommen.
Sie stirbt
, schoß es ihr durch den Kopf.
Genau jetzt. Wo sie niemand sieht. O Gott.
    Die strukturelle Integrität des Doms war nicht länger gegeben. Trümmer stürzten herab und begruben Menschen unter sich. Aber es waren nicht nur Teile der Domkonstruktion oder solche des geborstenen Daches; deformierte, schwarz verbrannte Metallteile des zerrissenen Stahlfachwerkes schlugen in rasanter Rotation eine Lücke in die Menge, wie ein Orkan eine Schneise in einen Fichtenwald. Nazma, einem irren Impuls folgend, sah noch einmal hinauf und erblickte vor dem Hintergrund des grauen Himmels am Rand des geborstenen Oberlichtes Flammen züngeln, genährt durch ausgelaufenes Flugbenzin. Irgend etwas Dunkles, Massiges lag dort im Feuerschein; es war dort aufgeschlagen und lag, dichten schwarzen Qualm blutend, auf dem nach wie vor intakten Teil des Daches. Und es neigte sich immer mehr über den Rand.
    „...ikopter...“, hörte Nazma Sarah krächzen, während sie weiterrannten.
    „Was?“, schrie sie zurück. Sie sah ein letztes Mal empor undaufgespleißte Stahltrossen durch den oberen Kuppelteil schnellen und Steine, Mörtel, Metallstücke aus der Polymerstruktur

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