Kairos (German Edition)
wirbelte er die Granate in Richtung der tobenden Menge. Sie explodierte in der Luft. Ein weiterer greller Blitz erhellte das Coliseum. Dann landete die aufgeplatzte Granate in der Halle und verströmte eine Wolke giftigen Tränengases, die sich rasch vergrößerte, dann aber in der Folge von den Absaugdüsen der Brandschutzanlage aufgenommen wurde.
Nazma brannten die Augen, und Sarah-Jem hielt die Luft an, um nicht würgen zu müssen.
Der Rauch – das Gas – ließ ihre Augen tränen, er reizte die Atemwege und ließ sie immer wieder husten, niesen und ausspucken.
„Sarah, ich ...
Shizz
, ich kann nichts mehr sehen!“
Nazmas Kleidung war schmutzig. Zäher Rotz lief ihr aus der Nase, Speichel aus dem Mund. Ihr Kopf schmerzte. Ihre Ohren dröhnten. Ihre Atemwege brannten wie Feuer.
Sarah-Jem antwortete nicht. Nazma verfluchte sie dafür. Aber sie lief weiter, immer Sarah-Jem nach.
Nazma versuchte im Laufen etwas zu sagen, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Sie wollte sich Räuspern, spürte dann aber einen Brechreiz. Ihre Kehle und ihre Lungen schienen mit heißem Rauch gefüllt zu sein. Aber ihre Augen tränten nicht mehr so stark, und sie konnte wieder etwas mehr erkennen.
Dann Schüsse. Nazma wunderte sich flüchtig darüber, daß die Polizisten erst jetzt vollends die Nerven verloren und das Feuer auf die Menschen eröffneten. Die gewölbten Wände warfen die Donnerschläge der Schüsse hallend zurück. Ein Querschläger pfiff wenige Meter über Nazma hinweg und schlug in die Brüstung des Oberranges, durchschlug das helle Eichenholz und drang einemdort stehenden Mann in die Brust, der daraufhin schreiend in die Tiefe stürzte. Nazma sah ihn auf dem Boden aufschlagen und sterben; sie
sah
es. Ebenso sah sie in das unwirklich lautlose Mündungsfeuer weiterer Schüsse. Aber all das war auf einmal unwichtig. Ihre völlige Verwirrung rückte all diese Dinge in ein neues Licht. Nazma hatte nicht das Gefühl, sich rennend, stolpernd und stoßend von der Stelle zu bewegen, sondern vielmehr, hilflos in einer umfassenden Leere zu strampeln, ohne Licht oder festen Halt, ohne irgendwelche Anleitungen oder Hinweise, die ihr weiterhalfen. Sie hatte das Gefühl, über den Rand der Welt in einen Abgrund gestürzt zu sein. Sie mußte die Kante, die den Grund von der Welt trennte, übersehen haben, aber definitiv: sie hatte sie überschritten. Und sie fiel und fiel ... Die Furcht zu sterben blockierte ihr Denken; kein gängiges Denk- oder Verhaltensmuster griff. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß all dies hier irgendwie einmal enden würde; zugleich wollte sie sich nicht vorstellen, daß es irgendwann einmal nicht vorbei sein würde. Sie würde solange in dieser Leere/Dunkelheit strampelnd und schreiend umherirren, bis es ... bis es auf irgendeine Weise zu Ende sein würde.
(Bis ich tot bin.)
Und dann, Stimme? Was kommt danach?
All diese Gedanken verursachten ihr Übelkeit und weiche Knie, mehr noch, als ohnehin schon. Aber sie mußte weiter, weil –
(Raus hier.)
Was?
(Schnell.)
Nazma spürte etwas. Ein Prickeln hinter ihrer Stirn. Es schien von ganz fern zu kommen, obwohl es sich dicht über ihren Augen befand. Etwas Seltsames geschah. Irgend etwas erlaubte Nazma einen ersten, scheuen Blick auf eine andere Wirklichkeit, eine fremdere, scheinbar endgültigere Realität. Sie sah hin, doch sah nicht viel, erkannte fast etwas. Sie überlegte, während sie lief.
So wie man die Schattenrisse von Menschen zu sehen glaubt, die sich hinter der Leinwand rühren, wenn der Film läuft.
Ja. Nein. Vielleicht. Man sieht hin, und sieht doch nichts, registriert nur etwas, ein Huschen von Schatten, daß die Anwesenheit irgendwelcher Dinge dahinter, hinter dem Sichtbaren, Vertrauten, zumindest vermuten läßt. Als wäre eine Fraktur durch die Wirklichkeit gegangen und ein Riß entstanden, durch den etwas hindurchlugte, zu dem man aber durch den Spalt selbst auch vordringen konnte.
So war es auch hier. Da war etwas, zugleich es nichts zu geben schien. Nazma begriff, daß ihre menschliche Rationalität mit einer tiefen Überzeugung und ebensolcher Skepsis in ihr wettstritten. Es schmerzte. Es machte sie rasend und stark. Es trieb sie weiter.
Sie lief.
Und dann sah sie nach oben.
Sie hatte das Gefühl, als sinke ihre Köpertemperatur auf Null, als durchflösse Eiswasser ihre Venen, Arterien und Kapillare. Etwas kam über sie, eine Vorahnung. Sie sah Dinge vor ihrem geistigen Auge entstehen, sich ausbreiten und vorbeiziehen.
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