Kairos (German Edition)
verging. Es blieb kaum Zeit für etwas anderes als die Tests, den Drill und etwas Schlaf. Corey vergnügte sich mit Kaolin. (Sie war gelenkig und experimentierfreudig; ihre Brustwarzen waren chirurgisch vergrößert worden und ihr Rücken zierte ein Kali-Tatoo.) Sie war ein Freak und Corey beeindruckt. Sie zerbrach sich nicht ständig den Kopf über irgend etwas oder schrie unvermittelt los. Sie beschimpfte ihn nicht als Träumer, Spinner oder reiches Gör, wußte, was sie im Leben wollte und – das Wichtigste – liebte wie er das Fliegen. Für Corey paßte einfach die Mischung: Keckheit, Insidersprache, toller Sex. Er fragte sie wegen ihres ungewöhnlichen Namens. Sie sagte: „Ich entstamme einer alten estnischen Töpferfamilie. Kaolin ist ein weicher, formbarer Ton aus Porzellanerde.“
Weich und formbar.
Es war perfekt.
Sie
war es. Für eine Affäre.
Ryan Doppler und Nikas Poulos scheiterten bereits in der ersten Woche. Die Griechin wegen einer ganzen Menge Dinge, der Schweizer aufgrund eines fundamentalen Motorikdefizits, einer angeborenen Schwäche bei der Koordination von Hand und Auge, die nie zutage getreten wäre, hätte er sich nicht bei der Luftwaffe beworben. Er nahm es mit Würde. Bester war bislang Scott vor Kaolin. Auch Corey schnitt gut ab; er sah sich schon auf dem Zwischenpodest der Wendeltreppe seines Lebens...
Tags darauf erhielt er eine Voicemail. Von Nazma. Zuerst wollte er sie löschen. Er überlegte es sich anders und spielte sie doch ab.
Ich bin’s, Nazma.
Ja ... also – Hey.
Womit soll ich anfangen...? Keine Sorge, sicher nicht mit Vorwürfen. Ich wollte nur, na ja, wissen, ob es dir gutgeht und so weiter. Und ... du hattest Recht, als du meintest, wir hätten es vermasselt, aber ... warum bist du einfach so abgehauen? Warum hast du nichts gesagt? Ich ... Schon gut, vergiß es. Keine Vorwürfe, nicht wahr? Ich fang noch mal von vorn an.
Mir brummt der Schädel. In zwei Wochen stehen Klausuren an, und ich wünschte, ich könnte all dem irgendwie entrinnen. Kann die Welt nicht vorher untergehen, oder so etwas? Käme mir gerade recht gelegen...
Mit dem neuen Englischdozenten, Professor Sanges, ist es nicht leicht; dieser alte Scholar verlangt viel. Zu viel. Es gibt massenhaft zutun – die Aussicht ist geradezu erdrückend. Ständig redet er von ›Transformationaler Grammatik‹, der ›universalen Sehnsucht bei Herman Melville‹ oder referiert über die ›Dreidimensionalität der Sprache‹, deren ›Indikatoren der Subjektivität‹.
(Stöhnen.)
Knochentrocken, ich sag’s dir.
Aber ich hab’ den Büchereijob! Als Hilfskraft. Manchmal lohnt ein Blick aufs Schwarze Brett dann doch. Zweimal die Woche, je drei Stunden; Bücher einordnen, Erstsemester über die Leihfristen belehren, ihnen zeigen, wie man die Katalogkästen benutzt; Buchbesprechungen diskutieren; zwölf Euro fünfzig die Stunde – nicht die Welt, aber, hey, ich entstamme halt nicht der schottischkatholischen Elite.
Das sollte ein Witz sein, du weißt das.
(Durchatmen.)
Also gut. Hör zu ... Vielleicht sollten wir uns mal zusammensetzen, in Ruhe aussprechen, wenn du in Frankreich fertig bist. Ich finde, das sollten wir, uns einfach mal unterhalten. Okay? Ich fände es gut. Ich habe begriffen, daß wir zwei Menschen sind, die nicht zusammenbleiben können, aber ... wollen wir uns denn völlig voneinander lösen? Wir sollten uns wenigstens etwas mehr Zeit nehmen, die Dinge zu klären, findest du nicht auch?
Gut...
Und ich hab’ was für dich. Eine Geschichte. ›Jenseits der Mauer‹. Eine Gruselgeschichte. Von Ambrose Gwinett Bierce. Allein die Vita des Autors reizt schon zum Lesen seiner Werke: Im amerikanischen Bürgerkrieg mehrmals ausgezeichnet, entschied er sich per Münzwurf gegen eine Laufbahn beim Militär und für eine Karriere als Journalist. Und dann hat er geschrieben, bis er neunzehn-dreizehn irgendwo in Mexiko verschwand. Man munkelt, daß er sterben mußte, weil er irgendeiner Geheimkultur in der Wüste Gobi auf der Spur war. Cool, was?
Okay. Also ... mach’s gut.
(Pause.)
›Vor...“
(Räuspern. Luftholen.)
„Vor vielen Jahren, auf meinem Weg von Hongkong nach New York, verbrachte ich eine Woche in San Francisco. Seit ich in dieser Stadt gewesen, war viel Zeit vergangen, während der meine Unternehmungen im Orient über meine Hoffnungen hinaus gediehen waren; ich war reich und konnte es mir leisten, meine Heimat wieder zu besuchen und dieFreundschaft mit jenen Gefährten meiner Jugend
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