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Kairos (German Edition)

Kairos (German Edition)

Titel: Kairos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gallo
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zu groß war. Obwohl sie ihr Zimmer nicht verlassen wollte, trug sie Schmuck und Make-up. Sie saß an ihrem Schreibtisch. Im Lichtfeld einer Lampe standen Schalen mit Kuskus und gezuckerten Rosinen (Coreys Bonmot zu ihrem Vegetarismus: Warum darf man Pflanzen essen und Tiere nicht?). Sie starrte auf die Endfassung einer Seminararbeit.
Großmacht und Unrecht: Die moralische Pflicht von Europas Engagement auf dem afrikanischen Kontinent, von Nazma Pelaya Chaudhry.
Sie blätterte lustlos um.
Die Geschichte des Europäischen Kolonialismus ist ein dunkles Kapitel in den Annalen der...
    Er hatte sie verlassen. Er – sie. Er war verlogen. Und feige.
    Sie hatte dem Gedanken ausweichen wollen, aber war wie in einem Raum mit nur einem Ausgang immer wieder bei diesem Moment gelandet.
    Er hatte sie getäuscht. Scheißkerl.
    Und sie hatte sich täuschen lassen. Wieder einmal. Sie war wütend; und traurig. Er hatte sich davongestohlen wie ein Dieb, als Beute ihr Vertrauen. Und dabei hatte
sie
die ganze Zeit mit
ihm
schlußmachen wollen, den Gedanken immer wieder gewälzt bis ... es zu spät war. Wieder war sie nicht konsequent gewesen. Das hatte sie nun davon.
    Ihr war, als erwachte sie aus langem, traumlosem Schlaf. Die Wirklichkeit war eine andere, als vor dem Schlaf. Sie kannte sich nicht mehr aus. Dinge, die ihr Weltbild gestützt hatten, waren plötzlich fraglich: Shakespeare, die Erdrotation – daß der Nacht ein Tag folgt und die Liebe niemals fällt.
    Sie nahm einen Geschichtsband, dick wie ›Krieg und Frieden‹, und legte ihn sich in den Schoß. Sie schaffte es, das Buch aufzuschlagen und kurz hineinzuschauen, ehe ihr Blick von den Wörtern ab- und zu den ungeputzten Fenstern hinausglitt.
Sommer 2042. Robert Plant vollendet sein fünfundneunzigstes Lebensjahr und feiert in Maghreb ein rauschendes Fest. Illegale Atomendlager in Estlands Wäldern machen Schlagzeilen. US-Präsidentin und einstige Exxon-Lobbyistin Elizabeth V. Camden droht wegen dem Verlust der Nördlichen Marianen an China die Amtsenthebung; und der
SPIEGEL
titelt: Sehen SIE aus wie WIR?
    Nazmas Blick wurde starr.
Corey verläßt Nazma, während sie schläft, und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.
    Er hatte noch immer nichts von sich hören lassen. Sie hatte nicht versucht, ihn zu erreichen. Inzwischen war er in Südfrankreich und schindete sich dort für seinen Traum...
    Nie wird er es schaffen!
Sie kaute auf ihrem Berol-Bleistift und stellte sich die Szene filmartig vor, wie sie sich wiedersehen.
Im Hintergrund: kulissenartig arrangierte Gewitterwolken; Blitze und Hagel. Er: eine Entschuldigung stammelnd, um Widereintritt in den Kreis ihrer Liebe bettelnd. Sie: gnadenlos, zu keiner Verzeihung bereit.
Sie sah es deutlich:
Er öffnet den Mund, um ihr zu erklären, daß ... und dann verstummt er und sieht ihr noch einmal in die Augen. Die Worte sterben ihm auf den Lippen. Schließlich holt sie aus und ohrfeigt ihn. Ihre Finger werden taub. ›Geh – und komm nie wieder!‹
    Draußen heulten, irgendwie tröstlich, Rettungswagensirenen. Sie sah das in der Sonne silbern glühende ›Coliseum‹, die neue Campussporthalle mit dem Dach aus ineinandergreifenden Dreiecken aus mehrstufigem Plexipolysorbat. Links davon lag die Lloyd-Astbury-Kuppel. Daneben thronte der Turm des Drehrestaurants und darüber hingen fette Kumuluswolken, die aussahen wie über der Stadt schwebende Schiffe...
    Nazma könnte sich in die Arbeit stürzen, Corey vergessen, gute Zensuren einheimsen und jemand Neuen finden. Eigentlich.
    Der Aufsatz über Maugham fiel ihr ein. William Somerset Maugham.
Damals und Heute.
Nazma holte die losen Blätter hervor, die Rohfassung eines Textes über den englischen Dramatiker, und überlegte kurz, ob sie die Reinschrift angehen sollte.
    Wollte sie nicht.
    Sie wollte mit Corey reden. Einmal wenigstens sollten sie über alles sprechen, einen sauberen Schlußstrich ziehen. In Wahrheit wollte sie ihn auf den Knien sehen, wollte, daß er einsah, was für ein Mistkerl er war. Einerseits. Ebenso wollte sie, daß er sagte:
Es tut mir leid. All dies war falsch.
Sie haßte ihn. Vermißte ihn. Es war zum aus der Haut fahren.
    Sie stieß sich kraftvoll aus dem Stuhl hoch. Ihr war eine Idee gekommen. Sie würde sich mit Judith – Judith Fisher, einer Freundin – bei
Choshi’s
, einem neondurchfluteten Studentencafé, treffen, und mit ihr über die Außerirdischen sprechen. Und danach über Corey. Judith würde ihr sagen, was sie hören wollte. Dann würde

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