Kaiserhof Strasse 12
die Marschreihen näher kamen, hörte ich deutlich, Wort für Wort, die SA-Männer singen: »Ja und wenn Judenblut am Messer spritzt, ei, dann geht's noch mal so gut.« Und weil das der Refrain ihres Marschlieds war, sangen sie ihn gleich zweimal hintereinander.
Erstarrt stand ich am Bordstein. Ich stellte mir das Bild vor: Mama, Papa und ich mit Messern im Bauch und in der Kehle, Blut spritzt aus den Wunden, und dazu fröhlich singende SA-Männer: »Ja und wenn Judenblut am Messer spritzt, ei, dann geht's noch mal so gut.« Der Trupp bog bereits auf den Bahnhofsplatz ein, und ich stand noch immer wie gelähmt. Später habe ich dieses Lied noch oft und bei verschiedenen Anlässen gehört. Und noch ein anderes SA-Lied ist mir in Erinnerung, das diesem an Scheußlichkeit nicht nachsteht und ebenfalls oft gesungen wurde. Die erste Strophe heißt: »Wetzt die langen Messer, wetzt die langen Messer, wetzt die langen Messer auf dem Bürgersteig. Laßt die Messer flutschen, laßt die Messer flutschen, laßt die Messer flutschen in den Judenleib. Blut muß fließen, Blut muß fließen, Blut muß fließen knüppelhageldick. Wir scheißen auf die Freiheit der Judenrepublik.«
So wie ich konnte jeder hinhören, wenn er nur hören wollte, was die SA-Männer sangen, oder besser grölten, denn diese Sorte Lieder konnte gar nicht gesungen, sie mußte gegrölt werden.
Darum war nach dem Zusammenbruch des Hitlerreichs mein Mißtrauen so groß, und ist es noch heute, wenn deutsche Biedermänner, die das Tausendjährige Reich gut überstanden haben, andere glauben machen wollten, sie hätten von nichts gewußt, seien selbst die Opfer einer Täuschung geworden und während der ganzen Zeit ahnungslos über die wahren Absichten Hitlers gewesen.
Der deutsche Gruß
Der Unterricht ging in den ersten Monaten so weiter wie bisher, es gab kaum Veränderungen. Was machte es, wenn Lehrer Runzheimer in seiner SA-Uniform und mit den eisenbeschlagenen Stiefeln durch die Gänge marschierte, als sei er auf dem Weg zur Feldherrnhalle. Was machte es, wenn er jeden mit »Heil Hitler« begrüßte - noch grüßten die meisten freundlich zurück: »Guten Morgen, Herr Kollege.«
Auch uns Schüler zwang er, ihn mit »Heil Hitler« zu begrüßen, schon bevor der Hitlergruß in den Schulen obligatorisch wurde. Er stellte sich akkurat vor die mittlere Bankreihe und »machte Männchen«. So bezeichneten wir damals noch geringschätzig seine manierierte Pose beim Hitlergruß. Runzheimer war sehr klein. Vielleicht war darum sein Hitlergruß besonders zackig. Er legte die linke Hand flach auf das Koppelschloß am Bauch und stach gleichzeitig die rechte in einem Winkel von sechzig Grad in die Luft. Dabei war die Hand anfangs noch geschlossen. Erst in letzter Sekunde, wenn man schon glaubte, jetzt müsse es im Ellenbogengelenk krachen, denn der angewinkelte Arm schnellte mit einem Ruck nach vorn zu einer Geraden, ging die Hand auf und die Finger reckten sich noch ein wenig mehr nach oben. Und während er über unsere Köpfe hinweg »Heil Hitler« schmetterte, wippte er leicht auf den Fußspitzen.
Aus der Art des Grüßens war deutlich zu erkennen, in welchem Maße und wie schnell der Nazibazillus den Lehrkörper infizierte. Man kann sagen, dieser Körper war von Anfang an weder resistent gegen den Bazillus, noch entwickelte er Abwehrstoffe. Ganz im Gegenteil: ich habe keinen Lehrer in Erinnerung, der den Faschisten ernsthaft Widerstand entgegengesetzt hätte. Gewiß, Braunhemd und Reitstiefel waren bei den meisten Mittelschullehrern anfangs noch unbeliebt, man schämte sich, mit Runzheimer auf eine Stufe gestellt zu werden, aber die Veränderung, die sich im Lehrkörper vollzog, war nicht zu übersehen.
Unser Klassenlehrer Arz war Protestant, ging regelmäßig in die Kirche, gab manchmal stellvertretend Religionsunterricht und könnte nach meiner Einschätzung vor 1933 die Deutsche Volkspartei oder das Zentrum gewählt haben. Auch er grüßte in den ersten Monaten noch mit »Guten Tag«. Dann aber sah ich, wie er schon mal auf Runzheimers provokatives »Heil Hitler!« die rechte Hand, die er nur so weit öffnete, als wolle er eine Kugel stoßen, leicht über die Schulter hob und mit »Heil Hitler« antwortete - möglicherweise mit einem inneren Widerstand, aber er überwand ihn, ohne Schaden zu nehmen, und gewöhnte sich so allmählich an den deutschen Gruß. Er sagte ihn immer häufiger und schon nicht mehr nur, wenn Runzheimer vorbeiging, und dann auch
Weitere Kostenlose Bücher