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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Beinen.
    Pilo-Peter sagte nicht einfach: das Weltjudentum ist unser Unglück, alle Juden sind Schacherjuden; er benutzte auch nur selten die »Stürmer«-Schlagworte von den stinkenden Juden und geilen Judenböcken. Pilo-Peter pflegte einen subtileren Antisemitismus. Er erzählte »Geschichten aus dem Leben«. Immer hatte er welche zur Hand, und stets waren sie selbst beobachtet, selbst erlebt. Mehrere handelten von Judenärzten, die sich an ihren Patientinnen vergingen; eine ganz delikate war darunter von einer Vergewaltigung in Narkose.
    Die folgende Geschichte gehörte ebenfalls zu seinem Repertoire: Eine brave Kaufmannsfamilie, die natürlich in seiner Nachbarschaft wohnte, bewahrte durch eine selbstschuldnerische Bürgschaft einen Juden vor dem Bankrott. Aus Dankbarkeit, so schien es, kam der Jude häufiger in die Wohnung der Kaufmannsfamilie. In Wirklichkeit war es aber nicht Dankbarkeit, die ihn trieb, er war vielmehr scharf auf das unschuldige dreizehnjährige Töchterlein. Und prompt, als er es eines Tages allein in der Wohnung antraf, tat er ihm Gewalt an. Kommentar von Pilo-Peter: »Das also verstehen die Juden unter Dankbarkeit.«
    Eine andere Geschichte: Ein Judenweib holte sich aus dem Waisenhaus Mädchen, um ihnen angeblich in häuslicher Atmosphäre Arbeit und Geborgenheit zu gewähren. In Wirklichkeit führte sie die armen Waisenmädchen ihrem Mann zu, der frühmorgens schon die bedauernswerten Christenmädchen - an ihrer eigenen Rasse vergriffen sich die Juden ja nicht - vernaschte wie andere ein weichgekochtes Frühstücksei. Und auch mittags und selbstverständlich auch abends. Pilo-Peters Kommentar: »Pfui Teufel! kann man da nur sagen.«
    Und dann die Geschichte von dem Juden, der die Schlechtigkeiten seiner Rasse und seiner Religion nicht mehr mitmachen wollte, sich mit dem Verstand dagegen auflehnte und eines Tages zum Christentum konvertierte. Aber das Blut! Judentum ist ja keine Sache des Glaubens, des Verstehens oder des Gefühls. Die ganze Verderbtheit der jüdischen Rasse ist im Blut enthalten. Kein Jude kann ihr entfliehen. Und so ist klar, daß der zum Christentum Übergetretene kein besserer Mensch werden konnte. Denn da war das Blut. Er wurde rückfällig und trat dann auch folgerichtig wieder aus der christlichen Kirche aus. Kommentar von Pilo-Peter: »Jud bleibt Jud, da hilft kein Weihwasser und kein Kreuzeschlagen.«
    Und ich saß stumm dabei, mußte mir die angeblichen Frevel meiner Leute anhören - und das alles in der salbungsvollen Stimme des Gesangslehrers. Mama hatte mir eingeschärft, nie vor andern an etwas Zweifel zu äußern, nie zu widersprechen, nie auffällig zu werden. Ich hielt mich strikt an ihre Anweisungen, hörte mir Pilo-Peters Haßtiraden gegen die Juden an, kaute an den Fingernägeln und an der Nagelhaut, daß mir ständig die Finger bluteten, und schwieg.
     
    Wie ich dieses Schweigen, dieses Immer-nur-Dulden, dieses Nicht-Aufbegehren verfluche! Mein ganzes Leben war davon geprägt. Noch heute entschuldige ich mich zwanzigmal am Tag für alles und nichts. Wenn mir jemand die Tür vor der Nase zuschlägt, wenn mir wer auf die Füße tritt, wenn ich im Überschwang meiner Gefühle jemanden umarme und küsse, entschuldige ich mich dafür. All meine Verlegenheit, Unsicherheit, Unscheinbarkeit, die mir anerzogen wurden, damit die Familie überleben konnte, liegen in diesem Sich-Entschuldigen.
    Selbst als mir der Lehrer Eisenhuth mit dem Spanischrohr eine klaffende Wunde am Kopf schlug, weil er meinen Rücken nicht traf, und kein Wort des Bedauerns fand, selbst da begehrte ich nicht auf, schwieg und duckte mich. Tagelang hatte ich Schmerzen und ein großes Pflaster auf der Stelle, wo der Stock wie ein Peitschenende entlanggestrichen war. Aber Mama tat so, als sei das gar nichts. Ich solle um Himmelswillen kein Aufhebens machen. Als Papa sagte: »Ganz schön, die Wunde. Sollte man nicht doch zum Rektor gehen?«, antwortete Mama ärgerlich: »Laß mich in Ruhe! Geh du doch, wenn du meinst.« Sie wußte ja, er konnte nicht, wegen seiner Aussprache und überhaupt. Und sie fuhr fort: »Von so etwas stirbt man nicht. Wir haben genug Zores. Was kommt schon dabei heraus, wenn ich mich beschwere?« Mama war aufgestanden, ging im Zimmer hin und her und gestikulierte mit den Händen, als wolle sie jeden Satz mit ihren zehn Fingern in die richtige Form kneten. »Soll er sehen, daß ihn niemand mehr mit dem Stock schlägt.« Sie blieb vor Papa stehen und beugte sich zu ihm:

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