Kaiserhof Strasse 12
vor der Klasse, denn etwa ab Mai lag eine Anordnung vor, daß in den Schulen nur noch mit »Heil Hitler!« zu grüßen sei. Bei dieser etwas lässigen Grußform ist es dann auch die ganze Zeit geblieben. Lehrer Arz hat es nie bis zum ausgestreckten Arm gebracht. Er paßte sich eben an, wie er das immer getan hatte, ob er etwas als unrecht empfand oder nicht. Beispielsweise hat er nie die Maßnahmen gegen die Juden im Unterricht gutgeheißen - aber er fand auch nicht ein einziges Mal ein kritisches Wort über die Verfolgung der Juden, und sei es noch so vorsichtig formuliert. Seinen halbherzigen Hitlergruß konnte man so deuten: Seht, wie ich mich von den Nationalsozialisten distanziere, und im Grunde habe ich auch nichts gegen die Juden - aber was soll ich tun?
Rektor Beyer, den wir »Vatermörder« nannten, grüßte da schon anders. Er hatte es im ersten Weltkrieg bis zum Hauptmann gebracht und trug Stahlhelm und Eisernes Kreuz in Miniaturausgabe auf dem Revers seines Jacketts. Vorne abgewinkelte Stehkragen, sogenannte »Vatermörder«, waren bei ihm obligatorisch. Er war immer in Eile, auf dem Weg in die Klasse, beim Unterricht, beim Bestrafen. Zeit nahm er sich nur, wenn er zu seinem Lieblingsthema kam, den Landsknechten. Er war ein Choleriker, und er duldete keinen Widerspruch. Wagte einer, seinen Vorstellungen von Disziplin und Gehorsam zuwiderzuhandeln, dann schrie er, daß sich seine Stimme überschlug, und drosch mit dem Stock oder mit bloßen Händen auf Freund und Feind, das heißt auf alle, die zufällig in seiner Reichweite waren.
Vatermörder grüßte immer laut und deutlich mit »Heil Hitler!« Nicht, weil er ein begeisterter Nationalsozialist, sondern weil es Vorschrift war. Vorschriften und Befehle waren für ihn, den deutschen Offizier, eben Vorschriften und Befehle. Aber er machte in der Handbewegung den deutschen Gruß so kurz und knapp, als wolle er eine Fliege am Ohr verscheuchen.
Aus dem ganzen Lehrerkollegium der Westend-Mittelschule war es nur Zeichenlehrer Schweighöfer, der sich von den Nazis distanzierte und das auch im Unterricht zu verstehen gab, wenngleich sehr vorsichtig. Ich registrierte, daß er als letzter den Nazigruß gebrauchte. Allerdings machte er es so komisch, daß sich einige Hitlerjungen aus meiner Klasse bei Rektor Beyer beschwerten, Schweighöfer verunglimpfe damit den Führer und den neuen deutschen Geist. Trotzdem grüßte er weiter so: er hob, selbst bei offiziellen Feiern, wenn alle ihn beobachten konnten, nur so die Hand an, wie man es üblicherweise tut bei der abwehrenden Redensart: »Nun mach's mal halblang«.
Im Turnunterricht war am stärksten spürbar, daß der Hitlergeist schon seinen Weg in die Westend-Mittelschule gefunden hatte. Unser Turnlehrer war Otto Röhre, genannt »Röhren-Otto«, und die Turnhalle war sein Kasernenhof. Die Springgrube verwandelte sich bei ihm in ein Schützenloch, Gymnastikkeulen in Handgranaten, und Barren wurden zu Sperrgürteln erklärt, die wir beim Sturm auf die feindlichen Gräben zu überwinden hatten. Er war nicht Mitglied der NSDAP, aber trotzdem ein Nazi. Seit Anfang 1933 trug er gut sichtbar im Knopfloch ein kleines silbernes Hakenkreuz.
Einen großen Teil jeder Turnstunde mußten wir in Dreierreihen in der Turnhalle herummarschieren und dabei aus vollem Halse singen. Röhren-Otto marschierte entweder links innen neben der ersten Reihe mit oder er stand in der Mitte und beobachtete uns. Und wehe, wenn einer den falschen Schritt hatte. Während wir singend weitermarschierten, mußte der Ertappte zehn oder zwanzigmal pumpen, das heißt, er mußte so oft Liegestütz machen. Bei jedem zweiten oder dritten Mal drückte ihn Röhren-Otto kräftig zu Boden. Seit dieser Zeit habe ich eine fast krankhafte Abneigung gegen den Viervierteltakt und gegen das Marschieren im Gleichschritt. Der Anblick einer Marschkolonne verursacht mir ein körperliches Unbehagen, nicht nur in Deutschland.
Bis zur Hitlerzeit war Röhren-Ottos Lieblingslied, auf das wir marschieren mußten, »Turner, auf zum Streite, tretet in die Bahn«. Das änderte sich. Neue Lieder entstanden, und bald sangen wir beim Marschieren das HJ-Lied »Auf hebt unsre Fahne in den frischen Morgenwind«.
Am meisten litt ich während des Unterrichts von »Pilo-Peter«. Das war der Spitzname unseres Gesangslehrers. Und genau so sah er aus: wie die damalige Werbefigur auf den Herdblank- und Schuhcremedosen, klein, dick, mit vorgewölbtem Bauch und viel zu kurzen
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