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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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»Wenn Walja sich richtig benimmt, kriegt er auch keine Schlag!« Mama war sehr erregt, weil es wer gewagt hatte, ihr zu widersprechen, aber auch von der Vorstellung, wegen dieser Sache in die Schule gehen zu müssen. Sie rang nach Luft und ließ sich erschöpft in einen Stuhl fallen.
    Papa legte ihr die Hand aufs Knie und sagte beruhigend: »Schon gut, ich habe ja nur gemeint.« Damit war die Angelegenheit für die Familie erledigt. Aber ich habe den Schlag auf den Kopf mit dem Spanischrohr bis heute nicht verschmerzt.
     

Der Stammbaum
    Ungefähr Mitte 1934 begann Biologielehrer Vollrath mit dem rassekundlichen Unterricht. Eines Tages bekam die Klasse die Hausaufgabe, mit Unterstützung von Vater und Mutter einen Familienstammbaum zu zeichnen. Bio-Vollrath wären gewiß die Augen übergegangen, hätten meine Eltern ihm, nach bestem Wissen und Gewissen, einen Stammbaum der Rabisanowitschs und Sudakowitschs präsentiert. Wen hätte er da nicht alles gefunden! Zum Beispiel einen Getreidegroßhändler aus Nikolajew in der Ukraine, der einst den russischen Muschiks das Korn vom Halm kaufte, noch bevor es reif war, und der - während seine Ehefrau Rahel zu Hause die Hände rang und mit Gott haderte - sein Geld so schnell wieder ausgab, wie es hereingekommen war. Das war mein Großvater väterlicherseits.
    Dann einen wohlhabenden Fischereiflottenbesitzer aus Otschakow am Schwarzen Meer, der sich auch aufs Einpökeln der Fische verstand und es im großen betrieb. Das war mein Großvater mütterlicherseits.
    Ferner hätten Fischhändler, Buchhändler, Schuster, Schneider, Kutscher und zudem ein paar »Gebildete« den Stammbaum geziert, Lehrer, Ingenieure, ein Anwalt und ein paar Ärzte. Sogar einen Schriftsteller gab es unter ihnen. Er hieß Jurij Libedinski, stammte aus Odessa und war ein Cousin von Mama. Er hat viele Bücher geschrieben, von denen einige sogar ins Deutsche übersetzt wurden, und er war in Moskau Vorsitzender des sowjetischen Schriftstellerverbandes. Er starb 1959, und ich habe ihn nie gesehen.
    Aber auch ein Schammes aus Lochwitza hätte irgendwo an einem Zweiglein des Stammbaums gehängt. Ein Schammes ist ein Synagogendiener. Im alten Rußland war er in kleineren jüdischen Gemeinden auch so etwas wie ein Gemeindediener.
    Unser Biologielehrer hätte in meinem Stammbaum auch einen entdecken können, der über Land gezogen ist und den Bauern alles verkauft hat, was sie brauchten und auch was sie nicht brauchten. Das war ein Bruder von Papa, ein lustiger Kerl, der, wie Papa, zu allem eine passende Geschichte zu erzählen wußte, eine Majsse, und der an einem eisigen Wintertag im Schneesturm verschwand und nie wieder auftauchte, nicht im Frühjahr nach der Schneeschmelze und auch nicht später.
    Einige richtige Rabbiner hätten ebenfalls den Stammbaum geschmückt, aus der väterlichen Linie. Sie lebten und taten Gutes in kleinen jüdischen Dörfern zwischen Nikolajew, Cherson und Jelisawjetowskaja und sind schon sehr lange tot. Aber das hat gar nichts zu besagen. Ob tot oder lebendig, Rabbiner ist Rabbiner.
    Des weiteren wäre Bio-Vollrath aufgefallen, daß als Geburts- und Sterbeort bei fast allen meinen Vorfahren mütterlicherseits »Akkerman« gestanden hätte. Die Erklärung dafür ist einfach. Die Sudakowitschs, die Familie meiner Mutter, waren fromme Juden. Und alle lebten im Getto der russischen Hafenstadt Akkerman, die heute Bjelgorod-Dnjestrowskij heißt. Sie waren dort seit Jahrhunderten ansässig.
    Schließlich hätte unser Lehrer festgestellt, daß viele Sterbedaten der Akkermanschen Mischpoche (: Familie, Verwandtschaft) auf den gleichen Tag lauteten. Und Mama hätte ihm erklären müssen, so wie sie es mir vor vielen Jahren erzählt hat, daß damals bei einem schlimmen Pogrom in Akkerman viele Familienmitglieder der Sudakowitschs erschlagen, ertränkt oder verbrannt worden sind. Die wenigen Überlebenden flüchteten in die Gegend von Odessa, unter ihnen meine Großeltern.
    In der väterlichen Linie des Stammbaums hätte an vielen Stellen der Vermerk stehen müssen: »Erschlagen, erstochen, vergewaltigt und dann erdrosselt vom aufgehetzten Mob und von Soldaten der Schwarzen Hundertschaft.« Diese berittene Elitetruppe des Zaren verbreitete, wo immer sie auftauchte, Angst und Schrecken. Oft geschah es, daß eine Abteilung der Schwarzen Hundertschaft durch eine jüdische Siedlung in Südrußland galoppierte und - nur so zum Vergnügen - ein paar Juden totschlug. Papa hat, wie er mir erzählte,

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