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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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getroffen. Gewiß, du warst es auch, die die Wohnungstür öffnete, wenn es klingelte und wir im hinteren Zimmer zusammenhockten und nicht zu atmen wagten in der Erwartung: Nun ist es soweit, nun kommt man uns holen. Warum eigentlich, Mama, hattest du so große Angst, wir andern könnten etwas falsch machen? War es wirklich nur Angst?
     
    Vereint saßen wir um den großen Eßtisch. In der Mitte lagen zwei zusammengeklebte Zeichenblätter, auf denen Mama, ausgehend von dem nun einmal vorhandenen Familiennamen Jakob Senger und ihrem im falschen Paß angegebenen Mädchennamen Olga Fuhrmann, ein Kästchen an das andere fügte und so einen fiktiven Stammbaum zusammenbaute, der allen schulmeisterlichen Nachprüfungen standhalten konnte und dessen dichtes Blattwerk, Name für Name, aus nichts als Lügen bestand. Ich durfte Mama dabei helfen, und ich ließ meine ganze Phantasie spielen. Auch Paula, die später nach Hause kam, beteiligte sich am Erfinden und richtigen Einordnen von rassekundlich akzeptablen Vorfahren. Die Kunst war nämlich: es mußte mit den Namen, den Geburts- und Sterbedaten alles zueinander passen, vertikal und horizontal und sogar im Rösselsprung.
    Von weittragender Bedeutung war die Idee, die Geburtsorte aller Vorfahren in die Gegend zwischen Don und Wolga zu verlegen und auf diese Weise glauben zu machen, daß wir von Wolgadeutschen abstammten. Damit war auch gleich erklärt, warum in unseren Pässen unter Staatsangehörigkeit »staatenlos« und »früher russisch« stand.
    Dreimal, fünfmal haben wir den Stammbaum umgeschrieben, da stimmte noch etwas nicht und da nicht, ein Name klang noch nicht deutsch genug, ein anderer dagegen zu deutsch. Doch dann stand er, zu aller Zufriedenheit, das heißt, zur Zufriedenheit Mamas. Auch Papa gab seinen Segen. Dann machten wir noch etwas sehr Kluges: wir fertigten eine Kopie des Stammbaums an und legten sie zu unseren Familiendokumenten. Das sollte sich später auszahlen. Ob Alex im Auftrag seines Lehrers in seiner Ahnengalerie herumforschen oder ein anderes Familienmitglied beim Ausfüllen von behördlichen Formularen der gesunden Rasse wegen die Namen der Großmütter und Großväter angeben mußte, dank dieser Kopie hatten wir keine Probleme, keine Widersprüche und immer die gleichen Namen. So wurde der anfangs als sehr lästig empfundene Stammbaum letztlich doch zu einer starken Strebe in unserem Lügengebäude.
    Eine schwache, vielleicht sogar verräterische Stelle hatte der Stammbaum dennoch, und wir waren außerstande, sie auszumerzen. Wie konnten wir glaubhaft machen, daß meine Eltern zwar Wolgadeutsche seien, aber in Litauen geboren sein sollten? Aus unerfindlichen Gründen hatte mein Vater dem Aussteller des falschen Passes in Zürich als Geburtsort Wilna für sich und seine Frau angegeben, wie es dann auch von allen deutschen Behördenstellen übernommen wurde. Es ist möglich, daß er damit von seinem wirklichen Geburtsort in der Ukraine ablenken wollte, weil er ja noch immer in den dortigen Fahndungslisten geführt wurde; denkbar ist aber auch, daß es sich einfach um einen Verständigungsfehler handelt. Ich habe Gründe für diese Vermutung, denn auch der Name senger ist nur ein Schreibfehler meines Vaters, wie er mir einmal gestand.
    Als er nämlich beim Ausstellen des falschen Passes auf einem Blatt Papier vorschreiben mußte, wie er in Zukunft heißen wolle, schrieb er jakob senger mit e. Eigentlich sollte der Name sänger mit ä sein, sänger mit ä, das hatte für einen Ostjuden, der nach Deutschland kam und sich einen zwar falschen, aber dennoch schönen deutschen Namen zulegen wollte, einen Sinn; senger mit ä erinnerte jeden frommen Juden gleich an den Chasn, den Vorsänger in der Synagoge; das war etwas Greifbares, Vorstellbares. Aber mein Vater hatte das Pech, den im Russischen wie im Jiddischen unbekannten Umlautbuchstaben Ä nicht zu kennen. Woher auch? So schrieb er eben Senger mit E, den Namen, den ich bis heute trage.
    Es wäre zu leichtfertig, diesen Schreibfehler als Kleinigkeit abzutun. Rektor Beyer, den wir Vatermörder nannten, sorgte dafür, daß dieses E eine nachhaltige Wirkung hatte.
    Vatermörders Steckenpferd war, wie gesagt, das Landsknechtleben. Eines Tages, während des Unterrichts, ging er durch meine Bankreihe und blieb vor mir stehen. »Steh auf, Senger!«
    Ich sprang aus der Bank. Was wollte er? Was paßte ihm nicht?
    »Hast du dir schon einmal überlegt, Senger, wer du überhaupt bist, von wem du

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