Kaiserhof Strasse 12
diese SS des Zarenregimes in Cherson selbst erlebt.
Und links und rechts an den Blatträndern entlang in winziger Schrift, denn es waren ja so viele, die dort hätten Platz finden müssen, würde Bio-Vollrath alle die Vorfahren gefunden haben, die durch Hungersnöte, Verfolgungen und staatliche Willkürmaßnahmen in alle Welt verstreut wurden.
Aber was für ein Stammbaum ist das! Ein Stammbaum des Jammers und der Klage. Und ich frage mich: Warum eigentlich haben meine Vorfahren sich nie gewehrt? Warum haben sie in Akkerman und auch in Cherson nur die Hände zum Himmel gehoben, Gott angerufen mit verdrehten Augen und sich von dem verhetzten Pöbel totschlagen lassen? Und dasselbe in Berditschew und Nikolajew, in Odessa und Kiew, in Warschau, Lodz, Lubin, in Frankfurt, Regensburg und wo nicht noch all! Und in meiner Zeit sind Millionen Juden ohne Gegenwehr in die Gaskammern gezogen. Sie wußten, sie gingen in den Tod, und doch leisteten sie keinen Widerstand, waren wie gelähmt. Ich habe von keinem Fall gehört, daß sie Knüppel genommen und auf ihre Peiniger eingeschlagen oder sie mit bloßen Händen erwürgt hätten. Was hatten sie schließlich noch zu verlieren!
Immer schon war es so gewesen, wie Mordechai Gebirtig in seinem erschütternden Lied »S'brennt, Brider, s'brennt!« gedichtet hat, bevor er in Krakau von Hitlersoldaten erschossen wurde: »Un ijhr schteijt un kuckt asoj sijch mit varlejgte Händ, un ijhr schteijt un kuckt asoj sijch, wie unser Schtetl brennt (: Und ihr steht und schaut untätig mit verschränkte Händ' und ihr steht und schaut untätig, wie unser Städtchen brennt.)«
Nur wenige Ausnahmen gibt es, so den Aufstand im Warschauer Getto. Dort haben die Juden es vorgezogen, bevor man sie verhungern ließ oder bevor sie vergast wurden, sich zu wehren, den Kampf aufzunehmen, auch wenn sie wußten, daß er hoffnungslos war.
Wenn ich an den gewaltsamen Tod von sechs Millionen Juden in Verbrennungsöfen, Gaskammern und bei Massenerschießungen, wenn ich an das traurige Schicksal meiner Vorfahren denke, frage ich mich auch: Was für ein Gott ist das, der seine Kinder so verkommen läßt? Wo waren während der schrecklichen Zeiten seine Propheten Elijahu oder Jeremias, wo waren Abraham, Isaak und Jakob? Für was brauchen wir sie, wenn sie nur im Betsaal lebendig werden und vielleicht noch in schönen jüdischen Geschichten, wo sie immer nur Gutes stiften? Ein schlechter Gott, schlechte Propheten, schlechte Priester müssen das sein, die keine Wunder geschehen lassen in diesen Zeiten.
Aber warum habe ich mich nicht gewehrt? Jeder, der nur ein einziges Mal draufschlug oder auch nur bereit war draufzuschlagen, wird mich fragen dürfen: »Warum du nicht? Warum nur große Worte, nur Hader mit Gott und sonst nichts?«
Es stimmt, ich rede und ich jammere - und habe fast vergessen, daß ich eigentlich nur von meinem Stammbaum erzählen wollte, bei dessen Anblick Bio-Vollrath aus dem Staunen nicht herausgekommen wäre.
Aber dieser Stammbaum wurde nie geschrieben.
Geschrieben und gezeichnet wurde dagegen ein anderer, zu dem man weniger Erinnerungen, aber mehr Phantasie brauchte, ein künstlicher Stammbaum, einer, an dem rein gar nichts stimmte und bei dem doch alles stimmen mußte.
Ich kam also nach Hause und erzählte Mama, was unser Biologielehrer von uns wollte. »Maseltow (: Gut Glück, Wunsch bei freudigen Anlässen).«, sagte Mama.
Maseltow ist eigentlich ein Glückwunsch, eine Gratulation, aber wenn Mama das bei solcher Gelegenheit sagte und mit einem ganz eigenen Tonfall, war das alles andere als ein Glückwunsch, dann sollte das heißen: das hat uns gerade noch gefehlt!
Und so war's ja auch. Uns diesen Stammbaum!
»So gesund soll dein Lehrer sein, wie der Stammbaum - der Teufel hol ihn mitsamt deinem Lehrer - ein Dokument unserer Familie ist.« Das etwa hätte Papa gesagt, das Sechel dazu hatte er. Sechel - das ch wie bei >machen< ausgesprochen - ist ein wichtiger Begriff im Jüdischen, aber kaum übersetzbar. Es ist Intelligenz und Verstand. Aber nicht nur das. Es ist Verstand mit Witz und Esprit - kurzum Sechel.
Ich erklärte Mama, wie ein Stammbaum aussehen muß und was alles hineingehört. Und schon setzte sie sich hin und malte einen. Ich durfte ihr nur noch assistieren. So machte sie es immer. Da gab es keinen Widerspruch.
Du hast für uns gedacht, Mama, für uns gelernt, für uns geschrieben, für uns gesprochen, für die ganze Familie, und hast alle Entscheidungen allein
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