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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Sprachstudien fortsetzen. Als seine Mittelsmänner erfuhren, daß ihm Ionka nach Frankfurt gefolgt war, veranlaßten sie ihn, auf seine Freundin Druck auszuüben, daß sie ebenfalls an der Universität Sofia für den deutschen Geheimdienst arbeite. Darüber hatten sie sich an dem Abend, als ich in der Dunkelheit auf Ionka stieß, zerstritten.
     
    Das alles erzählte mir Ionka, während wir vom Ostparkweiher durch die Gärten zur Ratsbrücke gingen. Es war inzwischen längst dunkel geworden.
    »Hast du Michael danach noch oft gesehen?« fragte ich. »Ein paarmal, es ließ sich nicht vermeiden.«
    »Liebst du ihn noch?«
    »Nein, schon lange nicht mehr, wir haben nichts mehr miteinander. Und jetzt frag nicht weiter, ich bitte dich.«
    Sie verlor kein Wort mehr darüber, weder an diesem Abend, als wir mit der Straßenbahn zurück zum Hauptbahnhof fuhren, noch in den wenigen Tagen, die bis zu ihrer Abreise blieben.
    Was sich in dieser Zeit tatsächlich abgespielt hat, was sie veranlaßt haben konnte, Frankfurt so hastig zu verlassen, wer sie bedrängte, wo ihr ehemaliger Freund geblieben war, ob sie gar selbst Kontakte zur Gestapo gehabt hatte, ich erfuhr es nie.
    Seltsam wie ihre Geschichte war auch noch ihre Abreise aus Frankfurt. Sie nahm sich keine durchgehende Fahrkarte nach Sofia, sondern fuhr mit der Bahn bis Wien und von dort mit dem Schiff. Anscheinend wollte sie den offiziellen Grenzübergang an der Bahnstrecke nach Sofia meiden. Aber warum?
    Einige Wochen später erhielt ich Post aus Sofia. Sie sei gut angekommen, schrieb Ionka, und arbeite jetzt in einer Kleiderfabrik, in der Uniformen für die deutsche Wehrmacht hergestellt würden. Noch einmal schrieb sie, knapp, unpersönlich. Dann blieb die Post von ihr aus. Keiner meiner Briefe wurde beantwortet.
    Wer sie auch war, sie hat unsere Familie nicht verraten, obwohl sie alles von uns wußte. Möglich ist sogar, daß sie deswegen große Pein auf sich nahm.
    Meiner ersten Tochter habe ich ihren Namen gegeben: Ionka.
     

Sie nannten ihn Papitschka
    Papa war siebzig Jahre alt, als er noch einmal in seinem Beruf zu arbeiten begann. Das war im Jahr 1940. Als Millionen Männer an die Front mußten und die Kriegsproduktion auf Hochtouren lief, war der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften groß, vor allem an Facharbeitern in Metallberufen.
    Nach endlosen Beratungen im Familienkreis, wobei wir alle Risiken prüften, die sich dabei für Papa ergeben konnten, beschlossen wir, daß er sich nach einem Arbeitsplatz umsehen solle, und er meldete sich auf dem Arbeitsamt. Als Spezialist an Revolverdrehbänken bekam er sofort mehrere Angebote, und man hatte nirgendwo Bedenken, einen Siebzigjährigen einzustellen.
    Papa war immer stolz auf seine manuellen Fähigkeiten gewesen. 1930, während der Weltwirtschaftskrise, hatte er seinen Arbeitsplatz verloren. Zehn Jahre war er arbeitslos, oft sprach er von seiner früheren Tätigkeit, zeigte mir auch mal, wie man mit einer Schublehre und einer Mikrometerschraube umgeht, den beiden wichtigsten Werkzeugen des Drehers, und versuchte, mir zu erklären, wie eine Revolverdrehbank funktioniert, was man auf ihr herstellt und wieviel Erfahrung man braucht, um diese komplizierte Präzisionsmaschine bedienen zu können. Zu seiner Zeit kannte man noch nicht die lochstreifengesteuerten halb- und vollautomatischen Drehbänke, da kam es allein auf das genaue Augenmaß und die ruhige Hand des Facharbeiters an. Wenn Papa erzählte, daß bei neuen Werkstücken, die in großen Serien aufgelegt werden sollten, stets er vom Meister den Auftrag erhielt, das Probestück anzufertigen, oder daß die Zeitnehmer sich beim Abstoppen der Akkordzeiten immer neben seine Drehbank stellten oder daß seine Arbeitskollegen sich von ihm die Lohnzettel überprüfen ließen und er mit einem kleinen Rechenschieber alles nachrechnete - dann empfand ich richtigen Stolz auf ihn. Er konnte etwas, das ihm so leicht niemand nachmachte, auch nicht Mama.
     
    Papa entschied sich für eine Zahnradfabrik in Sachsenhausen, einen mittelgroßen Betrieb, in dem er sich ein gutes Arbeitsklima erhoffte. Anfangs lief alles gut, man nahm Rücksicht auf sein Alter und ließ ihm Zeit zur Einarbeitung. Dann aber mußte auch er im Akkord arbeiten und, wie die anderen Dreher, zwei Drehautomaten zugleich bedienen. Hinzu kam, daß der Meister ihn schikanierte und oft seine Arbeit beanstandete. Er nahm es Papa übel, daß das Arbeitsamt ihm keinen jungen Dreher geschickt und der

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