Kaiserhof Strasse 12
Katharinenpforte, die Neue Krame hinunter und in Richtung Main. In der Nähe der Paulskirche waren wir allein. Auf dem großen freien Platz konnten wir jeden sehen, der sich uns näherte.
Einige Male setzte ich zum Reden an. Ionka merkte, wie aufgeregt ich war.
»Was hast du?«
»Nichts. Was soll ich haben?«
»Dich bedrückt etwas, Walja, ich spüre es.«
Ich blieb stehen. »Das stimmt. Ich muß dir etwas sagen, Ionka.«
Sie faßte mich am Arm. »Etwas Schlimmes?« »Wie man's nimmt.«
»Was ist es? Nein, sag es nicht. Ich will es nicht wissen.« Sie ging weiter. Ich hielt sie fest. »Sag es nicht!« »Doch. Ich bin Jude.«
Als hätte ich gesagt: >Ich habe die Pest<, ließ sie mich los, trat erschrocken einen Schritt zurück, musterte mich eine kurze Weile und fragte mit einer merkwürdig tonlosen Stimme: »Ist das wahr?«
»Ja, ich bin Jude.«
»Das ist nicht möglich!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und murmelte durch die Finger: »Das ist ja wahnsinnig!«
Ich verstand nicht ihre Reaktion. Leise, fast flüsternd, schilderte ich ihr, soweit es mir mit meinem mangelhaften Französisch möglich war, die Situation unserer Familie.
Der Paulsplatz war leer. Niemand kam vorbei. Ionka blickte zur Erde und rührte sich nicht von der Stelle. Mir schien es eine Ewigkeit. Dann hob sie langsam den Kopf, näherte sich mir wieder, berührte mich, als wolle sie fühlen, ob ich es denn wirklich bin. »Armer Walja!« Das klang, als habe sie bereits mein Todesurteil vernommen.
Jetzt erschrak ich. Was war mit Ionka? Was hatte sie so verändert? Gab sie mir gar keine Chance mehr?
Schweigsam brachte ich sie nach Hause, an unserer Bank am Beethovenplatz gingen wir vorbei. Zum Abschied fragte ich sie: »Liebst du mich jetzt auch noch?«
Sie gab keine Antwort, umarmte mich und verschwand in der Haustür.
Von da an lag ein Schatten auf unserer Liebe. Wir umarmten und küßten und liebten uns in den Nächten auf unserer Bank. Aber es war jetzt nicht mehr wie früher.
Ionka bedrängte mich, meine Familie kennenzulernen. Eines Tages nahm ich sie mit in die Kaiserhofstraße, nicht ohne ihr vorher eingeschärft zu haben, daß meine Familie von dem, was ich ihr am Paulsplatz anvertraut hatte, kein Wort erfahren dürfe.
Ionka unterhielt sich mit Mama und Papa in Russisch. Sie blieb zum Abendessen. Mama war zu dieser Zeit schon sehr krank und lag meist im Bett. Auch Paula und Alex kamen später, und ich hatte das Gefühl, Ionka wäre das erste Mal seit diesem Abend wieder fröhlich.
Nun kam sie öfter zu uns nach Hause. Mit Mama schloß sie eine richtige Freundschaft und brachte Geschenke für sie mit, selbstgestickte Deckchen und Taschentücher mit bulgarischen Folkloremotiven, einen seidenen Beutel, ein besticktes Kissen. Doch die Traurigkeit war in ihr geblieben und eine Distanz zu mir. Jetzt fiel mir auch auf, daß ich sie nie mehr bis ganz nach Hause bringen durfte. Am Kettenhofweg, spätestens an der Ecke Westendstraße verabschiedete sie mich. Oft fragte ich, ob sie etwas bedrücke.
»Nichts, nichts«, sagte sie immer wieder.
Als wir uns eines Abends trafen, standen zwei Koffer und eine Hutschachtel neben ihr auf der Straße. Sie sei in der Beethovenstraße ausgezogen, sagte sie verlegen. Es sah aber mehr danach aus, als sei sie Hals über Kopf davongelaufen.
Ich bot ihr an, mit Mama zu sprechen, ob sie ein paar Tage bei uns übernachten könne. Hastig und fast ängstlich lehnte sie ab. Keine einzige Nacht werde sie in unserem Hause bleiben. So fuhren wir zum Hauptbahnhof und gingen von einem Hotel zum anderen, bis wir schließlich im Hotel Vier Jahreszeiten ein Zimmer für sie fanden.
In dieser Nacht gingen wir noch lange am Main spazieren, und Ionka erzählte mir das erste Mal Einzelheiten von ihrer Familie: dem kranken Vater, dem im Ersten Weltkrieg ein Bein abgeschossen worden war und der im Familienrat nichts mehr zu sagen hatte; der strengen Mutter, die den Vater haßte; dem älteren Bruder, der dem ewigen Streit zu Hause entflohen war und in Plovdiv als kaufmännischer Angestellter arbeitete; dem zwölf Jahre jüngeren Bruder, dem allein alle mütterliche Liebe galt.
Auch von ihrem Studium erzählte Ionka, wie schwer sie es habe, weil sie gegen den Willen der Mutter studiere, die sie nach dem Abitur lieber im Haus behalten hätte zu ihrer eigenen Hilfe. Darum bekam sie keine Unterstützung von Zuhause und mußte sich das Geld für das Studium selbst verdienen. Ionka wollte Sprachlehrerin werden. Ihr
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