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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Versteckzeit schlitterte.
    Sein Tagesablauf veränderte sich jetzt wesentlich. Das Massenquartier der russischen Frauen war im Ostend der Stadt, in der Uhlandstraße. Jeden Morgen um sieben Uhr mußte Papa die Frauen dort abholen und sie zu Fuß nach Sachsenhausen bringen, denn Fremdarbeiter durften, wie die Juden, keine Straßenbahnen benutzen. Abends mußte er sie wieder zurückbringen, denn sie durften auch nicht ohne Begleitung durch die Stadt gehen.
    Der Grund, weshalb er sofort zugesagt hatte, war die Überlegung, den Russinnen damit ein wenig helfen zu können, denn er empfand sie gewissermaßen als seine Landsleute und Leidensgenossinnen. Jetzt ging es ihm nicht mehr nur darum, Geld zu verdienen, sondern er hatte wieder eine Aufgabe, eine große menschliche und, wie er es verstand, auch politische Aufgabe: diesen Frauen beizustehen. Seinen Andeutungen konnte ich entnehmen, daß er einige von ihnen vor harten Bestrafungen bewahrte, möglicherweise ihnen das Leben rettete.
    Papa hatte sich um die Unterkunft, das Essen und die Kleidung der überwiegend jungen Frauen zu kümmern, mußte sie an den Maschinen anweisen, vielerlei Beschwerden entgegennehmen und weitergeben, Streitigkeiten schlichten, und er begleitete die Frauen, wenn sie zum Arzt mußten. Er machte viele Arztbesuche mit ihnen, denn die meisten Frauen waren in dem kalten und zugigen Lager und durch das schlechte Essen krank geworden, und viele verletzten sich an den Maschinen.
    Am schlimmsten war es für ihn, wenn eine der Russinnen wegen angeblicher Arbeitsverweigerung, Diebstahls oder unerlaubten Kontakten zu Deutschen zum Verhör auf die Polizeiwache gebracht wurde oder wenn Gestapobeamte deswegen in die Fabrik kamen. Meister und Personalabteilung der Firma waren schnell dabei, einen Vorfall weiterzumelden, wenn sich auch nur der geringste Verdacht einer Unkorrektheit ergab, damit, so der Meister, »den Russenweibern von vornherein klar ist, was bei uns gespielt wird«.
    Sehr bald gewann mein Vater das Vertrauen der Russinnen. Er war für sie schließlich mehr als nur ein Betreuer, er war ihr »Papitschka«. Sie vertrauten ihm alles an, und das war oft so viel, daß ihm davon schwindlig wurde. Durch seinen Einfluß auf die Frauen änderte sich die Situation in der Maschinenhalle von Grund auf. Es kam kaum noch zu Mißverständnissen, und auch die Produktion lief wieder normal. Das hatte den Vorteil, daß man ihm künftig freie Hand ließ, sogar beim Umsetzen der Frauen an den Arbeitsplätzen. Davon machte er häufig Gebrauch und verhalf ihnen so zu manchen Erleichterungen.
    Er begnügte sich aber nicht damit, den Russinnen die Arbeitsbedingungen zu erleichtern, sondern unterstützte sie auf vielerlei Weise. Häufig brachte er ihnen Lebensmittel mit, die es für Deutsche noch ohne Marken gab, und auch mal ein Stück Butter oder Wurst, wenn eine Frau krank war.
    Groß war ihr Bedarf an Medikamenten, an Schlaf- und Beruhigungsmitteln, vor allem aber an Kopfschmerztabletten. Papa beschaffte soviel er konnte, denn stets hatten einige ihre Menstruation und brauchten dringend schmerzlindernde Tabletten, die sie aber offiziell nicht verschrieben bekamen.
    Dann besorgte er sich eine Ausnahmegenehmigung, mit der er einmal in der Woche zwei Frauen zum Abendessen mit nach Hause nehmen konnte. Solche Ausnahmegenehmigungen gab es damals noch. Bis zehn Uhr mußten die Frauen wieder in ihrem Quartier in der Uhlandstraße sein. Einige Zeit später kam er auf die Idee, mit der gleichen Bescheinigung zweimal je zwei Frauen in die Kaiserhof Straße zu schleusen; hin und wieder waren sogar sechs Russinnen gleichzeitig in unserer Wohnung. Beim Abholen in der Uhlandstraße und beim Zurückbringen half ich ihm oft.
    Es fiel ihm nicht leicht, für diesen wöchentlichen Familienabend die Frauen herauszufinden, bei denen er einigermaßen sicher war, daß sie nicht verraten würden, welchen Mißbrauch er mit der Ausnahmegenehmigung trieb. Verhindern konnte er nicht, daß die in der Uhlandstraße zurückbleibenden Frauen neidisch und vielleicht auch mißtrauisch wurden.
    Die Abende verliefen immer gleich: Abendessen, Gespräche, Austausch politischer Informationen und Papas Bericht über die Lage an den Fronten, vor allem an der Ostfront. Wahrheitsgemäß konnte mein Vater den Russinnen keine große Hoffnung auf baldige Rückkehr machen, denn zu jener Zeit, im Winter 1942/43, war zwar mit der Einschließung und Vernichtung der Sechsten Armee in Stalingrad der Vormarsch der

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