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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Betriebsleiter den alten Mann gegen seinen Willen eingestellt hatte.
    Völlig erschöpft kam Papa abends nach Hause, aß kaum noch etwas und war nicht einmal mehr imstande, die Zeitung zu lesen oder Radio Moskau zu hören.
    Sein eigentliches Problem im Betrieb aber war nicht die Schwere der Arbeit, sondern seine Aussprache. Im Kollegenkreis konnte er nicht, wie er das als Rentner getan hatte, einem Gespräch ausweichen. Man sprach ihn direkt an, und er mußte antworten. Und immer wieder wurde er nach seinem merkwürdigen Dialekt gefragt. Wenn nur ein einziger jemals mißtrauisch werden, nach seiner Vergangenheit forschen oder den Verdacht einer Parteistelle mitteilen sollte, war es nicht nur um ihn, dann war es auch um uns geschehen.
    Denn was Papa sprach, diesen Dialekt findet man in keiner deutschen Provinz, das war Mammeloschen (: So wird das Jiddische genannt; eine Zusammensetzung aus dem jiddischen Wort »Mamme« und dem hebräischen Wort »Laschön« (Sprache), ganz gewöhnliches Jiddisch).
    Es kam schon einmal vor, daß irgendwer verwundert fragte: »Sie sprechen aber einen komischen Dialekt, das hört sich ja wie Jiddisch an. Wo kommen Sie denn her?« Früher hatte Papa darauf geantwortet: »Wir kommen aus Oberschlesien«, denn man hatte ihm einmal gesagt, sein Dialekt ähnele dem Oberschlesischen. Dann aber, nach der Fertigstellung des Phantasiestammbaums, änderte er das und gab künftig, wie Mama empfahl, zur Antwort: »Wir kommen aus der Ukraine, wir sind Wolgadeutsche.«
    Ihm war gar nicht wohl dabei, sich als Wolgadeutscher auszugeben. An einem Abend sprach er davon, daß er jedesmal große Angst habe, wenn er jemandem die Geschichte von seiner Wolgadeutschen Abstammung erzähle. Es könnte ja sein, daß er einmal einem richtigen Wolgadeutschen begegnete, wie würde er dann dastehen! Aber Mama war da anderer Meinung. Sie wisse aus eigener Anschauung, sagte sie, daß die Wohngebiete der Wolgadeutschen viele hundert Kilometer weit auseinanderlägen und dort sehr verschiedene Dialekte gesprochen würden. Es sei für niemanden feststellbar, ob es nicht irgendwo doch eine Sprachinsel gebe, in der man diesen eigenartigen Dialekt spreche.
    Es war schon ein Glück, daß nie der Fall eintrat, wo es jemand ganz genau wissen wollte. Jeder Jude, der sich auch nur drei Minuten mit Papa unterhalten hätte, würde ihn am Ärmel gezoppt (: gezogen) oder am Mantelknopf gefaßt und gesagt haben: »Sengerleben, Ihr redt a gesinnt Jiddisch (: ein gesundes Jiddisch).«
    Bis zu seinem Tod im Jahre 1954 - gesegnet sei der Richter der Wahrheit - hat er gemauschelt, so wie ein Jude aus dem Judenviertel von Cherson eben mauschelt.
    Daß in all diesen Jahren kein Mensch sein Deutsch als Jiddisch entlarvte, ist ein Wunder. Und ich bin niemandem böse, der es nicht glaubt, weil er nicht an Wunder glaubt.
    Für Papa war es eine große Erleichterung, als etwa ein halbes Jahr später der Betriebsleiter anordnete, ihn aus dem Akkord herauszunehmen und zum Einrichter für alle Drehautomaten zu machen. Es war gleichzeitig auch eine Anerkennung seiner guten Arbeit.
     
    Im Herbst 1942, Papa war bereits zweiundsiebzig Jahre alt und noch immer Einrichter in der Zahnradfabrik in Sachsenhausen, kamen vierzig russische Zwangsarbeiterinnen in den Betrieb, dessen Produktion kriegswichtig war und der darum bevorzugt Arbeitskräfte zugeteilt bekam. Zur Betreuung und Einarbeitung der Frauen wurde ein invalider Schlosser bestimmt, der aber kein Wort Russisch verstand. Darum gab es vom Morgen bis zum Abend Mißverständnisse und viel Geschrei. Der Betreuer war außerstande, den Russinnen die einfachsten Handgriffe zur weiteren Verarbeitung der Drehteile verständlich zu machen.
    Es ergab sich von selbst, daß Papa als Dolmetscher einsprang. Aber bei vierzig Frauen zu dolmetschen, zu erklären und tausend Kleinigkeiten in Ordnung zu bringen, das war zu viel für ihn. Er kam mit seiner Arbeit nicht mehr nach. Da verbot ihm der Meister kurzerhand, sich mit den Russinnen zu beschäftigen. Das führte zu einem unerträglichen Durcheinander in der Maschinenhalle.
    Eines Tages wurde er zur Personalabteilung gerufen und gefragt, ob er bereit sei, die Aufsicht und Betreuung der Zwangsarbeiterinnen ganz zu übernehmen. Man brauche schnellstens einen russischsprechenden Betreuer. Lieber werde man sich nach einem neuen Einrichter umsehen. Papa zögerte nicht lange und sagte zu. Er konnte nicht ahnen, daß er damit in das riskanteste Abenteuer unserer ganzen

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