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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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deutschen Truppen gestoppt worden, aber noch zeichnete sich keine Wende ab, und ein Ende des Krieges war nicht absehbar.
     
    Nach einiger Zeit, als Papa die Frauen besser beurteilen konnte, riskierte er noch mehr. Unter großen Vorsichtsmaßnahmen - er prüfte genau, ob alle Türen und Fenster fest verschlossen waren, und hängte über das Radiogerät eine den Ton dämpfende Wolldecke - schaltete er Radio Moskau ein. Und alle Köpfe schoben sich unter die Decke, um die neuesten Nachrichten aus der Sowjetunion zu hören.
    Das waren gefährliche zehn oder fünfzehn Minuten. Papa schaltete das Gerät bald wieder ab, nahm die Decke wieder fort und stellte den Zeiger der Skala auf Frankfurt, eine wichtige Sicherheitsmaßnahme.
    Ich machte mir meine eigenen Gedanken über diese wöchentlichen Zusammenkünfte, hielt es für ganz überflüssig, ein so großes Risiko einzugehen und in Gegenwart der Russinnen Radio Moskau einzuschalten, denn sie hatten kaum Interesse an politischen und militärischen Informationen, es sei denn, sie waren davon unmittelbar betroffen, zum Beispiel, wenn sie über die Kriegslage in ihrer Heimat Nachricht bekamen oder von der Verschleppung weiterer Russen und Ukrainer nach Deutschland. Diese Gleichgültigkeit bemerkte ich auch, wenn Mama mit ihnen ein politisches Gespräch führen wollte. Sie hatten ausschließlich familiäre Sorgen, Probleme mit ihrem Zwangsaufenthalt in Frankfurt und ihrer Arbeit in der Zahnradfabrik. Nur darüber wollten sie sich mit uns unterhalten. Für sie war das Zusammensein mit einer Familie, mit Menschen, die ihnen Verständnis und auch ein wenig Zuneigung entgegenbrachten, wichtiger als alles andere.
    Eines Tages wurde eine Russin schwanger. Als ihre Monatsblutungen zum zweiten Mal ausblieben, vertraute sie sich Papa an. Für Zwangsarbeiterinnen war es im faschistischen Deutschland nicht möglich, ein Kind auszutragen. Die Schwangerschaft mußte unterbrochen werden. Papa wußte nicht genau, was in diesem Fall zu tun sei. Er wollte verhindern, daß man im Lager in der Uhlandstraße versuchte, mit Stricknadeln oder anderen Hilfsmitteln eine Abtreibung einzuleiten. So meldete er, trotz großer Bedenken, die Angelegenheit der Personalabteilung. Diese gab es der für Fremdarbeiter zuständigen Dienststelle bei der Geheimen Staatspolizei weiter.
    Bereits am Tag darauf kamen zwei Geheimpolizisten in den Betrieb und verhörten die Russin. Papa mußte dolmetschen. Sie wollten unbedingt erfahren, wer die Russin geschwängert habe. Doch sie schwieg. Die Folge war, daß sie nach dem Eingriff in der Klinik nicht mehr in die Fabrik zurückkam. Es hieß, man habe sie auf Anordnung der Gestapo in ein geschlossenes Lager bei Darmstadt gebracht.
    Später versuchte der Betriebsleiter, sich bei meinem Vater dafür zu rechtfertigen, daß er den Fall weitergemeldet habe. Er sei kein Denunziant, aber es lägen dem Betrieb strenge Anweisungen der Gestapo vor, jedes Vorkommnis anzuzeigen. Darum kamen auch immer häufiger Geheimpolizisten zu Vernehmungen in die Firma, und immer mußte mein Vater dolmetschen. An dem Grad seiner Verstörtheit konnten wir abends feststellen, wie schlimm die Verhöre gewesen waren. Er erzählte meistens keine Einzelheiten, nahm Rücksicht auf Mamas krankes Herz. Nur hin und wieder, wenn ihn etwas gar zu sehr bedrückte, holte er mich zur Seite, berichtete mir, was vorgefallen war, und gelegentlich beriet er sich auch mit mir, wie er sich in dem einen oder andern Fall verhalten solle.
    Trotz der strengen Maßnahmen kam es immer wieder vor, daß Russinnen schwanger wurden. Zwei Fälle sind mir bekannt, in denen es Papa mit einem Trick gelang, Frauen zur Abtreibung ins Krankenhaus einzuliefern, ohne daß die Gestapo eingeschaltet wurde. Durch bestimmte Manipulationen präparierten sich die betroffenen Frauen so, daß es aussah, als hätten sie starke Unterleibsblutungen, und blieben als bettlägerig im Lager zurück. Das meldete er der Personalabteilung, und einen Tag später sagte er, die Blutungen würden nicht nachlassen und er halte es für notwendig, die Frau zur Behandlung in die Klinik zu bringen. Dort besorgte ein verständiger Frauenarzt das weitere. Als sich ein solcher Vorfall ein drittes Mal wiederholte, meldete es die Firma der Gestapo, und diese forderte den Krankenbericht an. Die Russin verschwand, wie die erste, in einem geschlossenen Lager.
    Hierbei geriet Papa zum ersten Mal in den Verdacht, mit den Fremdarbeiterinnen gemeinsame Sache zu machen und

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