Kaiserhof Strasse 12
Lungen eingetreten.
Ich war während der Bergungsarbeiten im Werk geblieben, um bei eventuell notwendigen Identifizierungen behilflich zu sein. Bis am späten Abend die Särge kamen, lagen die toten Russinnen und die Deutschen, zwei Kinder, zwei Frauen, ein junger Flakhelfer und ein gehbehinderter älterer Hilfsarbeiter, nebeneinander auf ausgerolltem braunem Packpapier. Es sah aus, als ob sie alle schliefen. Ein Priester war auf den Hof gekommen, betete und erteilte die letzten Sakramente. Mittlerweile hatten sich auch die Angehörigen der deutschen Opfer eingefunden. Ihr Wehklagen erfüllte den Hof.
Um die toten Russinnen klagte niemand.
Fast jede Nacht gab es Fliegeralarm, und wir mußten viele Stunden im Luftschutzkeller verbringen, zu dem die Kellergewölbe der ehemaligen Weinhandlung im Vorderhaus der Kaiserhof Straße 12 ausgebaut worden waren. Sie hatten stählerne Türen, Gasschleuse, Frischluftschächte, Notstromaggregat, Sanitätsraum und weitere Schutzvorrichtungen, die aber eher der Täuschung der Bevölkerung als dem wirklichen Schutz vor Bombentreffern dienten. Wenn des Nachts, und immer öfter auch am Tag, die Sirenen aufheulten, eilten aus den umliegenden Häusern die Bewohner mit ihrem Luftschutzgepäck in unseren Keller. Es waren zwischen achtzig und hundert Personen, die meist schon ihren Stammplatz hatten, und sie warteten zitternd darauf, ob diesmal wieder das schauerliche Pfeifen der fallenden Bomben zu hören sein werde. Mit dem ersten Sirenenton begann auch die große Stunde der Frau Morschhäuser. Die resolute Frau des kleinen hinkenden Flickschneiders vom Mansardenstock war die mit vielen Befugnissen ausgestattete Luftschutzwartin und zudem eine gefährliche, weil fanatisierte Hitlerverehrerin. Alle Mitbewohner fürchteten sie und nahmen sich vor ihr mit politisch unbedachten Bemerkungen in acht. Zum Ausweis ihrer Würde trug sie eine schwarzweiße Binde mit den Buchstaben LS am Arm, einen Stahlhelm auf dem Kopf, der vor Granatsplittern schützen sollte, einen Erste-Hilfe-Beutel über der Schulter, eine Taschenlampe am Gürtel und die Volksgasmaske in der Hand.
Schon auf der Treppe zum Luftschutzkeller kommandierte sie die Verängstigten: »Schneller, schneller, es wollen alle in den Keller runter, bevor die Bomben fallen!« Sie allein verteilte die Sitzgelegenheiten, verbot lautes Sprechen oder das Wechseln der Plätze, schimpfte mit den unruhig werdenden Kindern, bestimmte, wann die eiserne Tür geöffnet wurde, und drohte mit »Meldung machen«, wenn während des Alarms jemand für eine Zigarettenlänge nach oben oder schon nach der Vorentwarnung den Keller verlassen wollte. Sie saß auch nie, lief immer nur herum, um alles und alle beobachten zu können. Wenn sie aber mal für kurze Zeit ruhig stand, dann in der offenen Gasschleuse. Die war sozusagen ihre Kommandobrücke.
Nie zuvor in ihrem Leben hatte Frau Morschhäuser so große Verfügungsgewalt über Menschen, hatte sie so viel Macht. Im Luftschutzkeller veränderten sich ihre Stimme, ihr Gang, ihre Bewegungen, sogar das Verhältnis zu ihren Mitmenschen - wenn sie zum Beispiel einem verängstigten Mütterchen in einer Weise Mut zusprach, als sei ihr selbst Angst ein Fremdwort.
Für Frau Morschhäuser waren diese Stunden, da die Bomben die Stadt in Trümmer und Asche verwandelten, Höhepunkte ihres Lebens. Ich kann mir gut vorstellen, daß sie wegen dieses gesteigerten Lebensgefühls den Krieg und die Angriffe auf Frankfurt noch gern sehr lange hingenommen hätte. Sie wußte, daß nach dem Ende des Krieges auch sie wieder in das armselige, trostlose Nichts ihrer Flickschneiderei versinken würde. Die Luftschutzwartin Morschhäuser war eines jener merkwürdigen Nachtschattengewächse, die der Krieg hervorbrachte und die mit dem Kriegsende auch wieder verschwanden.
Es war im Januar 1945. Mama war bereits tot, Alex und ich befanden uns beim Militär. Wie schon so oft zuvor, saßen Papa und Paula auf den ihnen von Frau Morschhäuser zugewiesenen Plätzen im Luftschutzkeller. Mehrere Angriffswellen waren schon über Frankfurt hinweggegangen. Der Keller zitterte von den Einschlägen der Bomben in der näheren Umgebung. Aus den Mauerfugen löste sich Kalkstaub und verursachte Hustenreiz. Kinder brüllten, Frauen stöhnten und weinten oder beteten. Auch Papa und Paula hatten große Angst, denn noch nie zuvor waren so viele Bomben im Innenstadtbereich gefallen wie diesmal. Plötzlich gab es einen fürchterlichen Schlag, der
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