Kaiserhof Strasse 12
Hände auseinandernahm; es schien, als habe er vergessen, sie nach unten zu tun.
Papa war zu der Zeit längst in einem Zustand der Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe. Kein Wort der Aufmunterung kam von ihm, keine Aufforderung an mich oder Alex, etwas zu riskieren, um zu überleben. Was auch immer geschah, er ließ es geschehen, angstgelähmt, resigniert, mit einer unendlichen jüdischen Traurigkeit. Aber war mein Verhalten anders? Was hatte ich denn riskiert?
So ging ich den Weg zur Musterung in die Wiesenhüttenstraße, fiebernd vor Angst, aber ich ging. Schleppte mich wie mit bleiernen Schuhen, quälte mich Schritt vor Schritt und malte mir aus, wie ich untersucht, als Jude entlarvt, verhaftet und unverzüglich, ohne Gelegenheit, Mama und Papa noch einmal zu sehen, in die Vernichtungskammer geschickt würde.
Dann stand ich vor dem Feldwebel. Das Phantasieren hatte ein Ende: Musterungsbescheid abgeben, Formular ausfüllen, warten, ausziehen bis auf die Turnhose und wieder warten, mit acht oder zehn anderen in das Untersuchungszimmer eintreten, immer dem Alphabet nach.
Nun kam der Moment, dem ich seit zehn Tagen entgegengezittert hatte, der Befehl: »Hosen runter!« und: »Hosen nach hinten legen!« Die Befehle gab der Sanitätsfeldwebel, der seitlich stand. Der Militärarzt ging von einem zum andern und inspizierte mit solcher Akribie die Geschlechtsteile des Goebbels-Aufgebots, als hinge davon Sieg oder Niederlage ab.
Ängstlich verfolgte ich, wie dieser Teil der Untersuchung vor sich ging. Erst besichtigte der Arzt den Penis in Hängelage, dann mußte man ihn anheben, damit der Arzt die Unterseite sehen konnte, hier und da drückte er auch mal auf einen Hodensack; danach mußte die Vorhaut zurückgezogen werden. Das ging alles sehr zügig, jeder schaute beim Nebenmann ab, was er zu tun hatte.
Während er die andern begutachtete, hatte ich reichlich Gelegenheit, mich mit ihnen zu vergleichen und den Unterschied festzustellen. Er war unübersehbar. Ich mit einer blanken Eichel, und die andern in der Reihe mit einem sich verjüngenden Ende. Sie sahen nicht gleich aus, die einen waren zusammengeschrumpft, andere machten den Eindruck, als hätten frierende Kahlköpfe sich wärmende Schals umgetan, bei einigen sah das Glied wie das Endstück einer Karotte aus, von dem ein starker Strunk abgedreht war. Aber keines war dem meinen ähnlich.
Jetzt war ich an der Reihe. Wieder zuerst Besichtigung in Hängelage - ich glaube, mir blieb für einen Augenblick das Herz stehen. Ich starrte in das Gesicht des Arztes, um an seinem Mienenspiel die Überraschung über meinen beschnittenen Penis herauszulesen. Nichts geschah in seinem Gesicht, kein Zucken, keine Bewegung. Sah er denn wirklich nichts? Jetzt anheben, nochmals Besichtigung, Vorhaut zurückziehen, so gut es ging - Ende. Ungerührt machte der Arzt einen Schritt weiter zum nächsten.
Die Musterung war vorbei, und wir konnten uns wieder anziehen. Ich verstand noch immer nicht, warum der Militärarzt nichts gesagt hatte, und grübelte auf dem ganzen Weg nach Hause darüber nach. War diese Gleichgültigkeit vielleicht nur gespielt, und er hatte doch gemerkt, daß mir ein ganzes Stück der Vorhaut fehlte, genausoviel, um den Unterschied zwischen Jude und Christ zu markieren?
Acht Tage später mußte Alex zur Musterung, in das gleiche Kreiswehrersatzamt, möglicherweise zum gleichen Arzt. Und auch bei ihm gab es keine Aufforderung, sich wegen des Beschnittenseins zu erklären.
Im September 1944 wurde mein Bruder Alex zu den Panzergrenadieren nach Kassel, einen Monat später, einige Tage nach dem Tod Mamas, wurde ich zur Ausbildung als Kanonier der Schweren Artillerie nach Fritzlar eingezogen. Ich ließ Papa und Paula allein in Jügesheim zurück mit ihrer Trauer, ihren Sorgen, ihrem Zores und folgte widerspruchslos dem Einberufungsbefehl.
Vier der Rekruten, die mit mir auf einer Stube lagen, sind mir noch in Erinnerung: ein achtzehnjähriger Freiwilliger aus einem Dorf bei Duderstadt, Sohn eines Tierarztes, der es so eilig hatte, zu den Soldaten zu kommen, daß er nicht einmal mehr sein Abitur machte und bereits vier Monate später an der Ostfront als vermißt gemeldet wurde; ein Musiker aus Göttingen, der vom Morgen bis zum Abend über seine zerschundenen Hände jammerte, die wohl exzellent mit einem Cello, aber nicht mit einem Gewehr und schon gar nicht mit einer 15-cm-Feldhaubitze umzugehen wußten; der Sohn des Schriftstellers und Hitler-Apologeten Friedrich
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