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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Bethge, den ich später im Lazarett wiedertraf, der nicht müde wurde, dem Vater Lorbeerkränze zu flechten, und immerzu von rassischer Elite, griechischer Geisteshaltung und der Würde des Menschen redete; und schließlich ein Staatsanwalt vom Sondergericht in Kassel mit einem kleinen Vogelgesicht und einer hellen piepsigen Stimme, der mich das Grausen lehrte.
    An den Abenden nämlich sprach der Staatsanwalt gern von seiner Arbeit, den Delikten, die in die Verantwortung eines Sondergerichts fielen - von Plünderei bis Volksverhetzung - sprach von den Schwierigkeiten der Verständigung mit den angeklagten Zwangsarbeitern und von den vielen Todesurteilen, die er beantragt und die an dem Kasseler Sondergericht gefällt wurden. Oder er schilderte mit beklemmender Sachlichkeit alle Details einer Hinrichtung durch das Fallbeil.
    Einmal erzählte er, daß aufgrund einer Denunziation ein nach Kassel zugezogener Mann verhaftet worden war, bei dem gefälschte Personalpapiere gefunden wurden. Die Gestapo überstellte ihn den Justizbehörden, und durch des Staatsanwalts geschickte Ermittlungen und Verhöre, die sehr langwierig und schwierig waren, wie er sagte, wurde der Verhaftete als Jude entlarvt und vor dem Sondergericht angeklagt. Fast bedauernd fügte der Staatsanwalt hinzu: »Als der Jude erkannte, daß es für ihn keinen Ausweg mehr gab, hängte er sich, noch vor der Verhandlung, in seiner Zelle auf.« Er habe sich selbst gerichtet, sagte der Staatsanwalt.
    Ich stellte mir vor, daß ich es hätte sein können oder mein Bruder Alex, der dem vogelgesichtigen Staatsanwalt in die Finger geraten sei und daß er statt des andern mich oder Alex als Jude entlarvt hätte. Und wieder sah ich mich hängen, diesmal nicht mit den Füßen nach oben in den Gitterstäben des Treppenhausfensters, sondern mit den Füßen nach unten und mit schräggestelltem Kopf, und die helle Stimme des Staatsanwalts tönte: »Er hat sich selbst gerichtet.« Alex hätte ich mir nicht aufgehängt vorstellen können, er würde sicherlich bis zum letzten Augenblick um sein Leben gekämpft haben.
     
    Höhepunkt der Ausbildung war ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Abhärtungslager auf einer Bergkuppe bei Fritzlar. Nachts ging die Temperatur auf minus zehn Grad zurück. Ich erkältete mich und bekam eine fiebrige Halsentzündung. Der Arzt im Krankenrevier glaubte, eine Diphtherie zu erkennen, und wies mich ins Lazarett ein. Das war Mitte Januar 1945. Ich packte meine wenigen privaten Dinge in einen Karton und begab mich in die Obhut der Ursulinen. Das Ursulinenkloster in Fritzlar war während des Krieges als Reservelazarett eingerichtet worden.
    Damit hatte ich bis zum Abtransport an die Front einen nicht zu knapp bemessenen Aufschub erhalten, denn ich kam auf die Infektionsstation und hatte wegen der notwendigen drei Diphtherieabstriche, die nach Kassel zur Untersuchung geschickt werden mußten, mindestens drei Wochen Zeit bis zur Entlassung. Die beiden ersten Abstriche waren negativ, der dritte dagegen positiv, ich war also, obwohl ich längst keine Halsschmerzen mehr hatte, Bazillenträger und mußte weiter auf der Infektionsstation bleiben.
    Nach vier Wochen aber stand ich endgültig zur Entlassung bereit. Ein Sanitätsunteroffizier brachte mir den Bescheid, ich habe mich in zwei Tagen zum Abrücken in die Kaserne fertig zu machen, denn dann werde meine Einheit an die Ostfront abgehen.
    Doch am gleichen Tag kam in Fritzlar ein Lazarettzug von der Ostfront an, und in unsere Krankenstube wurde ein Schwerkranker mit hohem Fieber eingeliefert. Er stöhnte vor Kopfschmerzen und hatte einen plackig geröteten Körper. Nur wenige Stunden, bevor ich in die Kaserne abzumarschieren hatte, diagnostizierte der Stationsarzt bei dem Schwerkranken Fleckfieber. Zugleich wurde über unsere mit zehn Soldaten belegte Krankenstube strengste Quarantäne verhängt und damit meine Entlassung wieder für einige Zeit verschoben. Mindestens vier Wochen Quarantäne, sagte der Arzt. Meine Artillerieeinheit rückte ohne mich an die Ostfront ab, wo sie unmittelbar nach der Ankunft im Frontgebiet fürchterliche Verluste hatte, wie ich später erfuhr.
    Der Fleckfieberkranke, dem wir die Quarantäne verdankten, starb kurze Zeit darauf in Bad Wildungen, wohin man ihn, leider zu spät, zur Spezialbehandlung gebracht hatte.
     
    Noch bevor ich in Quarantäne kam, besuchte mich Alex im Lazarett. Von Kassel aus war er nach einem kurzen Heimaturlaub an die Ostfront abkommandiert worden,

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