Kaiserhof Strasse 12
fuhr einen Umweg über Fritzlar und brachte mir einen Kuchen von Mimi mit. Die letzten Worte, die wir miteinander wechselten, waren das gegenseitige Versprechen, an der Front die erstbeste Gelegenheit zum Überlaufen zu nutzen. Das war wie ein Selbstbetrug in einer ausweglosen Lage, denn wir wußten beide längst, daß in der Endphase des Krieges auf beiden Seiten keine Gefangenen mehr gemacht wurden, daß es zu dieser Zeit nur noch ein gegenseitiges Abschlachten gab.
Ich verabschiedete mich von Alex am Tor des Lazaretts und blickte ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Das Herz wurde mir schwer. Ich hatte eine Ahnung, daß ich meinen Bruder Alex, den ich über alles liebte, nicht mehr wiedersehen würde.
Bis zum heutigen Tag mache ich mir Vorwürfe, mitschuldig zu sein am Tode meines Bruders. In schlaflosen Nächten überlege ich, was ich alles versäumt habe, um ihm das Leben zu bewahren. Ich war der Ältere, der Erfahrenere, in dieser Phase des Krieges mußte ich ihn daran hindern, an die Front zu fahren - egal wie, und wenn ich ihn lazarettreif geschlagen hätte. Doch ich ließ ihn laufen, hielt ihn nicht einmal fest. Alex hatte Vertrauen zu mir; würde ich ihn beschworen haben, sich irgendwo in Frankfurt zu verkriechen, er wäre meinem Rat gefolgt und hätte eine Chance gehabt zu überleben. Ich wußte, daß diese Überlebenschance an der Ostfront winzig klein war. Aber ich schwieg.
Der immer fröhliche Alex, der nie daran zweifelte, noch die Zeit nach dem Untergang der Hitlerära zu erleben, der noch auf dem Weg an die Front Briefe voller Zuversicht schrieb, der in der Hölle des Untergangs Zukunftspläne schmiedete und Zeit fand, sie niederzuschreiben und mit der Feldpost nach Hause zu schicken, mein Bruder Alex wurde in den allerletzten Kämpfen dieses Krieges, kaum zwanzig Jahre alt, von denjenigen getötet, denen seine ganze Sympathie galt, auf die er seine ganze Hoffnung auf eine bessere Zukunft gesetzt hatte.
Der unserer Quarantänestation zugeteilte Militärarzt, ein Wiener, seinen Namen habe ich vergessen, war mir in einer merkwürdigen, nicht ganz verständlichen Weise zugetan. Als ich, offenbar von dem eingelieferten Fleckfieberkranken infiziert, einige Tage später einen leichten Fleckfieberanfall bekam, setzte er sich zu mir ans Bett und sagte so leise, daß es außer mir niemand hören konnte:
»Sie werden doch nicht kurz vor dem Ende schlappmachen wollen! Der Krieg geht nicht mehr lange, dann müssen Sie auf den Beinen sein. Reißen Sie sich zusammen!«
Und ein anderes Mal, als es mir schon wieder besserging: »Haben Sie sich eigentlich überlegt, in welcher Lage Sie hier sind? Entweder Sie kommen mit dem nächsten Schub an die Front oder die Amerikaner schnappen Sie.«
»Das weiß ich, aber was soll ich tun?« gab ich zur Antwort.
»Das müssen Sie sich schon selbst überlegen. Gott hilft dem, der sich selbst zu helfen weiß.« Und nach einer Pause fuhr er fort: »Ich habe mir auch schon Gedanken darüber gemacht. Man müßte sich Zivilkleidung besorgen und aufs Land gehen, zu einem Bauern. Da wäre man wahrscheinlich am sichersten.«
Er untersuchte mich schweigend, zog mir die Decke über den Bauch, beugte sich über mich und flüsterte: »Soll ich Ihnen sagen, was Sie tun müssen? Abhauen, Mann! Nichts als abhauen!« Damit wandte er sich dem nächsten Kranken zu.
Diese Gespräche, wenn auch geflüstert, waren nur möglich, weil mein Bett, als ich den Fleckfieberanfall bekam, in dem verhältnismäßig großen Saal vorsorglich etwas separiert von den anderen Kranken gestellt worden war, so daß wir mit Sicherheit keine Mithörer zu befürchten brauchten.
Er sprach mit niemandem sonst im Krankensaal so lange, das konnte ich genau beobachten. Doch ich hatte keine Gelegenheit mehr, seinem Rat zu folgen: Schon zwei Tage später war der Kanonendonner der amerikanischen Geschütze zu hören. Jede Stunde kamen neue Meldungen über den Frontverlauf und die Positionen der kaum noch aufgehaltenen alliierten Panzerkolonnen.
Im Lazarett herrschte große Aufregung. Wie aufgescheuchte Nachtfalter flatterten die Nonnen in ihrer knöchellangen schwarzen und weißen Ordenstracht durch die Gänge. Novizinnen, weltliche Krankenschwestern, Ärzte und militärisches Dienstpersonal hasteten durcheinander. Mehrere Male am Tag gab es Fliegeralarm. Dann mußten wir, die Gasmaske am Arm, hinunter in die engen Kellerräume des Klosters, wir zehn Patienten von der Quarantänestation immer
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