Kaisertag (German Edition)
Tagen unmittelbar vor seinem Tod erfahren. Außerdem musste er auch mit dem Offiziersburschen des Obersts sprechen, der ebenfalls in diesem Haus gewohnt hatte, möglicherweise sogar immer noch wohnte, und von dem Prieß bislang kaum mehr wusste, als dass sein Name Karl Lämmle war.
Irgendwie werde ich die alte Schachtel dazu bewegen müssen, mit mir zu sprechen. Na, das werde ich schon noch in den Griff bekommen. Aber jetzt …
Er ging durch den gepflegten Vorgarten zurück zu seinem Auto und stieg ein. Als er hinter dem Lenkrad saß, atmete er noch einmal tief durch. Dann drehte er beherzt den Zündschlüssel und fuhr los.
Lang ausgestreckt lag der Lübecker Dom am Südende der von Wakenitz und Trave umflossenen ovalen Altstadtinsel. Die uralte Bischofskirche war ein mächtiger Bau aus rotem Backstein, auf dessen massigen romanischen Türmen zwei hohe gotische Turmhelme saßen. Unterhalb dieses Bauwerks, von der Kombination aus archaischer Schwere und himmelstürmender Leichtigkeit fast erdrückt, befand sich das ehemalige städtische Zeughaus. Der schlichte Zweckbau aus dem sechzehnten Jahrhundert wirkte wie eine Lagerhalle, der man die Giebelfront eines Bürgerhauses vorgesetzt hatte. Schon lange wurden hier nicht mehr die Musketen des Stadtmilitärs aufbewahrt, dafür war das Zeughaus nun Sitz der Lübecker Polizei.
Prieß zögerte. Er konnte sich noch nicht überwinden, das Gebäude zu betreten. Die zwielichtigen Kaschemmen am Hamburger Hafen hatten ihm nie so viel Angst gemacht wie diese harmlose Polizeiwache einer friedlichen Provinzstadt. Wie festgenagelt stand er auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Fritz, reiß dich zusammen! , dachte er. Du kannst dich ja doch nicht davor drücken. Du wirst jetzt einfach da reingehen. Da wird dir schon niemand den Kopf abreißen …
Er sah hinüber. Neben dem Eingang stand ein Schutzmann in der für Lübeck typischen Uniform. Statt der Pickelhauben und Waffenröcke, die den Polizisten in den meisten deutschen Staaten ein sehr militärisches Aussehen verliehen, waren in der Hansestadt schwarz glänzende Ledertschakos mit einer schlichten, modernen Version des doppelköpfigen Lübecker Adlers an der Vorderseite in Gebrauch. Die blaue Uniform unterschied sich von einem normalen Herrenanzug fast nur durch die aufgesetzten Brusttaschen und die Kragenspiegel mit den Rangabzeichen. Alles in allem machten die Lübecker Ordnungshüter einen beinahe schon zivilen Eindruck. Der bürgernahen Kleidung des Beamten schenkte Prieß in diesem Moment allerdings keine Aufmerksamkeit; ihm war nicht verborgen geblieben, dass er inzwischen die Aufmerksamkeit des Postens erregt hatte. Das war nicht verwunderlich, denn nach den Terroranschlägen der jüngsten Zeit musste ein Fremder, der zwanzig Minuten lang ein Polizeigebäude zu beobachten schien, Verdacht erregen. Prieß erkannte, dass er jetzt nur noch die Wahl hatte, weiterzugehen oder sich zusammenzunehmen und das Zeughaus zu betreten. Also überquerte er die Straße und ging mit rasend hämmerndem Herzen auf das Tor des Polizeipräsidiums zu.
Polizeipräsident , stand in fetten Buchstaben auf dem Emailleschild an der Tür. Daneben saß hinter einem Schreibtisch ein junger Polizist mit Sommersprossen und Brille, der das Vorzimmer hütete. Fast mitleidig hatte er Prieß angesehen, als ihm der Detektiv eine Visitenkarte gegeben und um eine Unterredung mit seinem Vorgesetzten gebeten hatte. Wann hätte ein Polizeichef eines deutschen Bundesstaates jemals mit einem Privatdetektiv gesprochen? Aber er hatte sich dann doch von seiner Schreibmaschine gelöst und gab die Bitte um ein kurzes Gespräch über das Telefon weiter. Als er den Hörer wieder auflegte, hoffte Prieß insgeheim, im nächsten Moment unverrichteter Dinge wieder fortgeschickt zu werden. Doch die erstaunte Miene des Polizisten sprach Bände.
»Sie dürfen eintreten«, sagte er verwundert. Prieß dankte ihm und öffnete die Tür zum Büro des Polizeipräsidenten. Während er hineinging, konnte er aus dem Augenwinkel noch erkennen, wie sich der junge Polizeimeister ratlos am Kopf kratzte.
Als Prieß eintrat, stand Alexandra Dühring mit verschränkten Armen in der Mitte des Raums. Oh Gott , war sein erster Gedanke, sie ist immer noch genauso schön wie damals. Ihre Gesichtszüge waren in den zwanzig Jahren, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, ein wenig härter geworden, aber das schien ihm ihre unbeschreibliche, eigenwillige Faszination nur
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