Kaisertag (German Edition)
den Alten, der sich in immer wüstere Beschimpfungen hineinsteigerte.
Von der Marienkirche her schollen die hellen Töne des Glockenspiels durch die schwere Mittagshitze.
Friedrich Prieß hatte den Kopf in die Hand gestützt und saß mit gedankenschwerer Miene an dem Tisch in Alexandras Lesezimmer. Vor ihm standen drei unbenutzte Kristallgläser sowie eine ungeöffnete Flasche Wein; bis gerade eben war Senator Frahm noch dort gewesen und hatte den letzten Stand der Dinge erläutert. Keinem war dabei danach zumute gewesen, die Flasche zu entkorken. Die Situation war einfach zu bedrückend.
Es war nun offiziell, dass der Besuch des Kaisers trotz der jüngsten Anschläge wie geplant stattfinden würde. Doch das hatte Prieß vorausgesehen, denn schließlich zogen hinter den Kulissen ja die Puppenspieler alle Fäden, und sie hatten zweifellos keine Mühen gescheut, um Wilhelm V. davon zu überzeugen, dass eine Absage unklug sei. Den Kaiser vor dem Attentat zu warnen, war schlichterdings unmöglich. Er war umgeben von Puppenspielern, niemand konnte an ihn herankommen, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen, wenigstens nicht so kurzfristig. Die einzige Chance, den Lauf der Dinge zu beeinflussen, bestand darin, den Scharfschützen aufzuspüren und auszuschalten. Doch wo würde er lauern? Das britische Präzisionsgewehr hatte, wie Prieß inzwischen wusste, eine Reichweite von über eintausendfünfhundert Metern. Solange der Schütze also freies Schussfeld hatte, konnte er sein Opfer aus großer Distanz ins Visier nehmen. Dadurch kamen unzählige Orte als Verstecke infrage, die man alle unmöglich im Verlaufe eines einzigen Vormittags absuchen konnte, schon gar nicht im Alleingang. Die Polizisten, die Alexandra unterstanden, konnten diese Aufgabe nicht übernehmen, und das nicht allein, weil sie bereits hoffnungslos überlastet waren: Es würde am Kaisertag in Lübeck von Männern des RMA und der Geheimen Reichssicherheitspolizei wimmeln, von denen zweifellos zumindest einige den Verschwörern als Augen und Ohren dienten. Wer konnte vorhersagen, was geschehen würde, wenn sie merkten, dass die Polizisten gezielt einen Scharfschützen suchten?
Hilfe war nur von Rommel zu erwarten. Der Feldmarschall hatte, gleich nachdem Diebnitz’ codiertes Schreiben entschlüsselt war, kurzerhand angekündigt, er wolle auch bei der Kaisertagsfeier anwesend sein. Der Lübecker Bürgermeister war darüber natürlich hocherfreut gewesen, denn der als öffentlichkeitsscheu bekannte legendäre Held des Großen Chinakrieges würde der Feier zusätzlichen Glanz verleihen. In Wahrheit war Rommel der Kaisertag absolut gleichgültig; er kam, um im äußersten Notfall selber ins Geschehen eingreifen zu können. Er war immer noch einer der höchsten Offiziere des Reiches und konnte daher, wenn alle Stricke reißen sollten, den Befehl über jeden übernehmen, der eine Uniform trug. Zusätzlich hatte er zwölf Mann seines württembergischen Stammregiments, die aufseiten der Schatten standen, nach Lübeck geschickt, damit sie in Zivil nach dem verborgenen Mordschützen suchten. Es war wenig, aber besser als gar nichts.
Es war fast ein Ding der Unmöglichkeit, den Attentäter zu finden, darüber gab Prieß sich keinen Illusionen hin. Aber sie mussten ihn unschädlich machen, ehe er in Aktion treten konnte – es gab keine andere Möglichkeit, um die anrollende Katastrophe zu verhindern. Senator Frahm hatte das Bild einer langen Reihe aufgestellter Dominosteine gebraucht, um die Lage zu veranschaulichen: Stieß man den ersten Stein an, kippten mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit alle anderen in rascher Folge um. Starb Kaiser Wilhelm V. an der Kugel eines angeblichen dänischen Attentäters, würden die waffenstarrenden Luftkreuzer und Kriegsschiffe Kurs auf Kopenhagen nehmen und die Stadt in Schutt und Asche legen. Und schon folgte eine Kriegserklärung der nächsten, erzwungen durch die Verflechtungen der Bündnisse und begünstigt durch die schwelenden Hassgefühle, welche die Puppenspieler in ganz Europa gezielt herangezüchtet hatten, und die dann in einer einzigen Eruption explodieren mussten. War dieser erste Stein erst einmal umgestürzt, gab es kein Zurück mehr.
Der drohende europäische Krieg konnte vielleicht noch verhindert werden, wenn Großbritannien einen deutschen Angriff auf Dänemark nicht mit einer Kriegserklärung an das Reich beantwortete; doch Yvonne Conway hatte bislang niemanden in London erreichen können. Es schien, als
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