Kaisertag (German Edition)
er.
Mit einem schmalen Lächeln klemmte Deuxmoulins sich die Mütze unter den Arm und verließ sein Büro.
Der aufbrandende Jubel der Zuschauer am Bahnhofsvorplatz vermengte sich mit dem Läuten aller Kirchenglocken Lübecks, als der junge Kaiser an der Seite von Bürgermeister Pagels aus dem Hauptportal des Bahnhofs trat. Die Ehrenkompanie des Lübecker Infanterie-Regiments, herausgeputzt in Paradeuniform mit weißer Hose, war in einer schnurgeraden Reihe angetreten. Im selben Augenblick, als der Monarch erschien, präsentierten die Soldaten das Gewehr mit fehlerloser zackiger Gleichzeitigkeit.
Umgeben von Leuten, die immer wieder in Hochrufe ausbrachen und voller Enthusiasmus Papierfähnchen schwenkten, stand Paul von Rabenacker neben einer Litfaßsäule und beobachtete das Geschehen mit einem unbewegten Gesichtsausdruck, der ihn inmitten von so viel Begeisterung fast wie einen Fremdkörper wirken ließ. In Wirklichkeit aber war er alles andere als teilnahmslos; vielmehr versuchte er, seine Aufregung nicht sichtbar werden zu lassen. Er rechnete damit, dass jede Sekunde ein Schuss durch die Luft peitschen könnte und der Kaiser im nächsten Moment tot zusammenbrach.
Aber nichts passierte. Der Kaiser ließ sich vom Kommandeur der Ehrenkompanie Meldung machen und erwies dann der Regimentsfahne seinen Gruß, indem er die Hand an den Schirm der Pickelhaube legte, während der Bürgermeister den Zylinder lüftete. Dann schritt er unter Trommelwirbel die Front der Kompanie ab, zusammen mit dem Bürgermeister, der ihm im protokollgerechten Abstand von einem Schritt folgte.
Rabenacker fiel auf, dass der Kaiser nur von einem Adjutanten begleitet wurde. Die Puppenspieler waren sich also ihrer Sache so sicher, dass sie an diesem Tag sogar die hermetische Abschirmung Wilhelms V. nicht mehr für nötig hielten.
Wenn da nicht auch noch die Bombe wäre , dachte der Oberst, könnte man jetzt ohne Weiteres an ihn herankommen und ihn warnen.
Doch die Bombe war nun einmal da; zumindest war sie irgendwo. Und die Puppenspieler würden sie zweifellos vorzeitig zünden, sobald der Kaiser sich nicht wie vorgesehen verhielt und ihr Plan zu platzen drohte, darauf hätte Rabenacker sein Rittergut verwettet.
Die Zeremonie war noch längst nicht beendet, aber der Oberst wandte sich bereits um und machte sich auf zum Hanseplatz. Die Polizeipräsidentin erwartete ihn in zehn Minuten, und mit dem verletzten Fuß konnte er sich nur langsam fortbewegen.
Bis zum Eintreffen des Kaisers auf dem Hanseplatz verblieben noch über zehn Minuten, aber die Honoratioren und Würdenträger der Stadt hatten sich bereits vor der Tribüne zur Begrüßung versammelt. Es war nur eine kleine Willkommenszeremonie vorgesehen, bei der ausschließlich die Senatoren, der Bischof, die Konsuln der in Lübeck vertretenen skandinavischen Länder und der Garnisonskommandant, immerhin ein altgedienter Brigadegeneral, mit ihren Ehefrauen dem Herrscher des Deutschen Reiches vorgestellt werden sollten. Erst später, beim Festbankett im Großen Börsensaal des Rathauses, sollten dann auch die weniger bedeutenden Ehrengäste dem Kaiser die Honneurs erweisen dürfen.
Der Sonnenschein und die Wärme machten den Wartenden zu schaffen, den Männern in ihren steifen schwarzen Fräcken und Zylindern noch mehr als den Frauen, denen das Protokoll zumindest die Möglichkeit gelassen hatte, weiße Kleider zu wählen. Der Einzige, der die Hitze gar nicht wahrzunehmen schien, war Senator Kaacksteen, der als Offizier in Südwest-Afrika, Kamerun und Kaiser-Wilhelm-Land gedient hatte und dem diese Temperaturen nicht der Erwähnung wert schienen.
Im Moment jedoch war er mit den Gedanken ganz woanders, nämlich bei der Rede, die er vor dem Bankett am Nachmittag halten würde. Er hatte sich vorgenommen, nichts vom Blatt abzulesen, und ging den Text, den er sich in mehreren schlaflosen Nächten abgerungen hatte, immer wieder im Kopf durch:
Wie lautet doch das Dichterwort? ›Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte!‹ Und wer wollte bestreiten, dass der Allmächtige kein anderes Volk so reich mit Eisen, ja mit Stahl beschenkt hat wie das deutsche? Daher ist es auch nur recht und billig zu folgern, dass unser Herrgott kein Volk weniger zu einem Knechtsdasein vorgesehen hat als das unsrige. Es ist somit Sein Wille, dass wir Deutschen nie unser Haupt beugen, nie fremder Herren Joch tragen sollen …
Kaacksteen war sich sicher, dass diese Worte beim jungen
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