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Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Praxis, als sei er einer Gruft entronnen.
      
    In schwindelnder Höhe liefen die Rippen der gotischen Gewölbe zusammen und überspannten das lichtdurchflutete, weiß gekalkte Kirchenschiff von St. Marien. Prieß, der sich nicht mehr erinnern konnte, wann er zum letzten Mal eine Kirche betreten hatte, ging etwas ziellos durch die Reihen der alten Bänke aus dunkel schimmerndem Holz. Er hatte nie erwartet, dass ihn sein Beruf eines Tages ausgerechnet in ein Gotteshaus führen würde. Unwillkürlich wurde sein Blick nach oben gelenkt, hinauf zu der gewaltigen, mit filigranem Schnitzwerk verzierten Orgel, die den Westteil des großen Hauptschiffs beherrschte; hinauf zu den Epitaphien an den Pfeilern, die in barocker Pracht mit Putten, Sensenmännern und allegorischen Frauengestalten an längst verstorbene Ratsherren erinnerten. Ernst, fast traurig blickten die Männer mit den gepuderten Perücken aus ihren düsteren, üppig umrahmten Porträts.
    Plötzlich fröstelte Prieß, aber das war verständlich. Er war aus der ungewöhnlich warmen Maisonne in die kühle, nach altem Staub und verborgener Feuchtigkeit riechende Kirche getreten. Nun wollte er so schnell wie möglich Pastor Wilhelmi finden, denn in St. Marien, so eindrucksvoll die prächtige Ratskirche auch sein mochte, fühlte er sich entschieden zu unwohl.
    Er hatte kein Glück. Der Herr Hauptpastor der Ratskirche, so ließ ihn der Küster wissen, der gerade die Gesangbücher auf den Bänken verteilte, sei auswärts und würde ohnehin erst am Montag nach den Pfingstgottesdiensten wieder Zeit für Besucher haben. Also übergab der Detektiv dem Küster eine seiner Visitenkarten und kündigte an, am Montag wiederzukommen.
    Auf dem Weg zum Ausgang bemerkte Prieß etwas, das bis dahin seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Der Fußboden, über den er gerade ging, bestand aus rechteckigen Steinplatten. Ihre Abmessungen waren sehr unterschiedlich, weshalb die Lücken zwischen ihnen mit Ziegelsteinen ausgefüllt waren. Für einen Augenblick wunderte Prieß sich, dass in einer Kirche, auf deren Gestaltung die mittelalterlichen Baumeister so viel Sorgfalt verwandt hatten, ein derartig grober Fußboden lag. Dann sah er auf einer der Steinplatten die gerade noch erkennbaren, flachen Reste einer kantigen gotischen Inschrift. Es waren die Grabplatten vieler Generationen, dem ehemaligen Friedhof von St. Marien entnommen und nun degradiert zum Bodenbelag.
    Prieß fror, aber diesmal war nicht die kühle Luft daran schuld.
        
     

Sonnabend, 21. Mai
     
    Zeitig am Sonnabendmorgen fuhr Friedrich Prieß zum Forschungsinstitut. Diesmal ließ ihn die Wache am Haupttor passieren, denn sein Name stand auf der Besucherliste. Prieß musste seinen Wagen gleich hinter dem Tor abstellen und wurde dann von einem Fähnrich und zwei Soldaten, die darauf aufpassten, dass er keine unerwünschten Abstecher machte, über das Gelände eskortiert.
    Der Weg war kurz. Die Verwaltung des Instituts hatte ihren Sitz in den Gebäuden der ehemaligen Heilanstalt, die sich unterhalb des Uhrturms befanden. Erst dahinter, abgeschirmt durch eine Baumreihe, begannen die eigentlichen Forschungseinrichtungen wie auch die Unterkünfte der Sonderbrigade und erstreckten sich über eine Fläche, die um ein Vielfaches größer war als die der bescheidenen ursprünglichen Anlage. Prieß konnte davon jedoch nur ein Stück eines großen, fensterlosen Komplexes erspähen, der betongrau zwischen dem Grün der Bäume lag. Dann musste er schon das Stabsgebäude betreten, wo sich das Büro des Generals befand.
      
    Otto von Deuxmoulins empfing Prieß sofort. Der General, ein freundlicher und zuvorkommender Mann mit kurzem, silbernem Haar, hatte nichts von der selbstherrlich auftrumpfenden Art der meisten deutschen Offiziere. Vielmehr sprach er leise und überlegt, sehr kultiviert und mit feinem Gespür für die Nuancen des Tonfalls. Prieß war angenehm überrascht von diesem Menschen, den nur die erstklassig geschneiderte feldgraue Uniform als Soldaten auswies. Den Schreibtisch, über dem das Wappen der Sonderbrigade hing – ein Adler mit einem Schwert in den Fängen und einem schwarz-weiß-roten Brustschild, auf dem das Eiserne Kreuz prangte –, hatte Deuxmoulins zur Begrüßung verlassen und es danach vorgezogen, mit seinem Besucher in den Polstersesseln Platz zu nehmen, die um einen niedrigen Tisch nahe des Fensters gruppiert waren. Er bot dem Detektiv an, Kaffee oder Erfrischungen kommen zu lassen, doch Prieß

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