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Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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einher, Lieferjungen und Dienstmänner bahnten sich mit voluminösen Paketen, Sackkarren voller Kartons oder eiligen Briefen hastig ihren Weg. Prieß wollte dem Gedränge auf dem Bürgersteig entgehen und auf die Straße ausweichen, aber er wurde von einer heranratternden Straßenbahn mit einem schrillen Klingeln auf den Gehweg zurückgescheucht. Sobald er konnte, ließ er die überfüllte Breite Straße hinter sich und wich auf die ruhigen Nebenstraßen aus.
    Hier störte kaum etwas seine Bemühungen, die bisherigen Erkenntnisse im Kopf zu sortieren. So kam er auch rasch zu dem Schluss, das bisher nichts, gar nichts den Verdacht zuließ, Gustav Diebnitz sei anders gestorben als durch eigene Hand. Unklar war ihm nur das Warum. Was könnte Diebnitz veranlasst haben, seinem Leben ein Ende zu bereiten? Bevor er keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage vorzuweisen hatte, würde Franziska Diebnitz den Auftrag, mit dem sie Prieß betraut hatte, nicht als ausgeführt betrachten. Aber wahrscheinlich würden ihn die Personen, mit denen er noch zu sprechen beabsichtigte, die nötigen Hinweise liefern.
    Aus den offenen Fenstern und den Gängen, die in die Wohnhöfe hinter den Giebelhäusern führten, wehte Essensgeruch durch die warme Mittagsluft und erinnerte Prieß daran, dass er am Morgen nur ein trockenes halbes Brötchen heruntergebracht hatte. Die Mischung der Düfte von frischen Bratkartoffeln, Fisch, Bratwurst, Leber mit Zwiebeln und Eintopf, die ihn jetzt auf Schritt und Tritt begleitete, machte ihn hungrig. Darum schob er die Überlegungen in Sachen Gustav Diebnitz vorläufig beiseite und konzentrierte sich darauf, eine akzeptable Gastwirtschaft zu finden.
      
    »Gustav Diebnitz? Ein wirklich bemerkenswerter Mensch. Von sehr vaterländischer Gesinnung, ein tadelloser Diener Seiner Kaiserlichen Majestät, wie es sie leider immer weniger gibt. Und zugleich ausgesprochen intelligent und geistreich. Ich bedaure sehr, dass er nicht mehr unter uns weilt.«
    Doktor Julius Bliesath war der Letzte auf der kurzen Liste von Personen, die Prieß von Diebnitz’ Witwe erhalten hatte. Er war Allgemeiner Arzt, scheinbar recht angesehen in Lübeck und hatte seine Praxis in der St.-Annen-Straße, gleich gegenüber des gleichnamigen mittelalterlichen Klosters, das nun als Museum diente, und der unmittelbar benachbarten, in verspieltem orientalisierenden Stil errichteten Synagoge. Und eines hatte Prieß bereits bei der Begrüßung festgestellt: Er mochte diesen Mann nicht. Der bloße Anblick des Gesichts mit den schmalen Lippen und den stechenden Augen hatte ihm vom ersten Moment an nicht gefallen. Als er ihm die Hand gab, hätte er sie am liebsten gleich wieder zurückgezogen; Bliesaths Finger waren kalt wie ein toter Fisch. Aber er hatte sich diese Reaktion verkniffen und gelächelt. Trotzdem blieb es Prieß ein Rätsel, wie dieser blasse Asket mit der schneidenden Stimme das Vertrauen seiner Patienten gewinnen konnte.
    »Aber die Gründe, die ihn in den Selbstmord getrieben haben, kennen Sie auch nicht?«, wollte der Detektiv wissen.
    Der Doktor machte eine sparsame, verneinende Bewegung mit dem Kopf. »Nein. Ich kann nicht einmal Vermutungen anstellen. Unsere Unterhaltungen hatten fast ausschließlich Themen der Kunst, Literatur und Kultur zum Inhalt, nie sein persönliches Befinden.«
    »Aber – Sie waren doch sein Arzt. Hat er denn nie …«
    »Herr Prieß, ich war niemals sein Arzt. Wäre ich es gewesen, so würde ich mit ihnen ganz gewiss nicht über den Verstorbenen sprechen. Nein, wir hatten uns bei einem gemeinsamen Freund, Pastor Wilhelmi von St. Marien, kennengelernt und bald bemerkt, dass wir gewisse Interessen teilten.«
    Ich kann mir kaum vorstellen, dass du Freunde hast. In deiner Umgebung erstarrt doch alles sofort zu Eis , dachte Friedrich Prieß.
    »Und überhaupt«, fuhr Bliesath knapp fort, »bin ich der Ansicht, dass die Beschäftigung mit Todesfällen, auch von Suizid, Sache der Polizei ist und bleiben sollte. Ich bedaure, Ihnen nicht helfen zu können.«
    Der Doktor wollte nicht über Diebnitz sprechen, und Prieß musste es hinnehmen. Zumindest wusste er nun, dass der Oberst mit dem Pastor der Marienkirche mindestens eine weitere Person in Lübeck gekannt hatte, deren Name nicht in Franziska Diebnitz’ Notizbuch verzeichnet war. Ob diese Information wertvoll war oder nicht, würde sich noch herausstellen. Der Detektiv verabschiedete sich vom Doktor, gab ihm widerstrebend die Hand und verließ die

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