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Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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und für maßloses Erstaunen gesorgt hatte: Der gewaltige gelbliche Rauchpilz, der über der Wüste Deutsch-Südwestafrikas aufgestiegen war, nachdem kurz zuvor ein gleißendes Licht wie von unzähligen Sonnen den Himmel erfüllt hatte. Darunter stand der Text: Die Atombombe. Eine neue Waffe von ungeahnter Macht wurde der prächtigen schimmernden Wehr des Reiches hinzugefügt. Seine Majestät drückte Seine allerhöchste Genugtuung über diesen Erfolg aus. Ein herrlicher Triumph der Wissenschaft und des deutschen Geistes. Lesen Sie unsere reich bebilderte Farb-Reportage auf den Seiten 3–12.
    Noch bevor Prieß die Illustrierte aufblättern konnte, fielen ihm die Augen zu. Die Zeitschrift glitt ihm aus der Hand, und er versank in einen traumlosen Schlaf, während draußen vor dem Fenster ein zarter purpurfarbener Schimmer am Himmel das heraufziehende Ende der Nacht ankündigte.
        
     

Freitag, 20. Mai
     
    Prieß’ Stimmung beim Frühstück war schlecht, und das so offensichtlich, dass sich niemand in der Gaststube zu ihm an den Tisch zu setzen wagte. Mürrisch kaute er an einem Brötchen, und die Meldungen in der Zeitung waren auch nicht dazu geeignet, seine Laune zu verbessern.
    England droht dem Reich , lautete die Schlagzeile des Lübecker General-Anzeigers . Darunter zeigte ein Foto den britischen Premierminister Lord Stanton bei seiner Rede vor der Empire-Wirtschaftskonferenz in London. Weil die deutsche Textilindustrie seit Monaten schon Stoffe aus Kunstfasern zu konkurrenzlos niedrigen Preisen auf den Markt warf, blieben die britischen Hersteller auf ihren Baumwollprodukten sitzen. Im Norden Großbritanniens war es nach Massenentlassungen bei allen wichtigen Textilfabriken zu Streiks und gewalttätigen Unruhen gekommen. Aber in Indien, dem Kronjuwel des Britischen Weltreichs, sah es noch schlimmer aus. Dort hatten die indischen Großgrundbesitzer auf den unerschöpflichen Hunger der englischen Textilkonzerne nach Baumwolle gebaut und ihre Bauern gezwungen, nichts anderes anzubauen. Nun blieben die Einkäufer aus, und die Grundherren verlangten von ihren Bauern, dass sie die Pacht ab sofort in Bargeld statt in Baumwolle bezahlen sollten. Das war natürlich unmöglich, denn die kleinen Pächter hatten außer Baumwolle, die keiner mehr haben wollte, keine Erzeugnisse, die sie hätten verkaufen können. Die Bauern konnten nicht zahlen, die Grundherren beschlagnahmten ihren armseligen Besitz und warfen sie von ihrem Land. Die Folge waren Aufstände, die überall in Indien aufflammten, sich mit der Unaufhaltsamkeit eines Steppenbrandes ausbreiteten und das ganze Land ins Chaos zu stürzen drohten. Immer mehr Truppen aus allen Teilen des riesigen Empires mussten entsandt werden, um ein völliges Abgleiten in die Anarchie zu verhindern. Zum ersten Mal seit der Zerschlagung der Gandhi-Bewegung vor über fünfzig Jahren fürchtete man in London, Indien und seine Reichtümer zu verlieren. Und die britische Öffentlichkeit wusste, wem sie diese Zustände zu verdanken hatte: Deutschland, das mit seinen synthetischen Stoffen den Weltmarkt überschwemmte. Die antideutschen Äußerungen in der englischen Presse wurden häufiger, der Ton immer schärfer. Und nun forderte der britische Premierminister die Reichsregierung auf, dem hemmungslosen Export deutscher Textilien Einhalt zu gebieten, und drohte mit Konsequenzen, sollte das Reich keine erkennbaren Maßnahmen ergreifen.
    Kopfschüttelnd faltete Prieß die Zeitung zusammen und warf sie auf den Tisch. Er wusste, was diese Töne aus London bewirken würden, dazu musste man kein Hellseher sein. Wenn es einen narrensicheren Weg gab, die Untertanen des Kaisers geschlossen gegen England aufzubringen, dann hatte Lord Stanton ihn gefunden.
    Aber die Kapriolen der großen Politik und die Empfindlichkeiten der Nationen kümmerten den Detektiv momentan kaum. Er hatte selber genug, womit er sich herumschlagen musste. Daher trank Prieß den Rest seines Kaffees aus und verließ dann die Gaststube. Es war Zeit, sich mit der Kunst des Fotografierens zu beschäftigen.
      
    Nach einigen Anläufen hatte Prieß es geschafft, der hübschen, aber etwas begriffsstutzigen Fotoassistentin hinter dem Tresen klarzumachen, dass er weder ein Porträtfoto noch einen Rollfilm wolle, sondern ihren Arbeitgeber zu sprechen wünsche. Daraufhin hatte sie ihn durch die verschachtelten Korridore, in denen die Luft geschwängert war mit dem scharfen Geruch von Entwickler und anderen Chemikalien, zu

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