Kaisertag (German Edition)
Wahrscheinlichkeitsrechnung aufgestellt: Was spricht für einen Selbstmord, was dagegen? Das Endergebnis dieser Rechnung war wohl, dass ein Freitod hochgradig unwahrscheinlich ist. Dieser Denkprozess ist ein absolut logischer Vorgang, aber so komplex und von außen undurchschaubar, dass er den Anschein eines emotional bestimmten Urteils erweckt. Das nur als kleine Lektion für dich, damit du von deinem hohen Ross der angeblich ach so überlegenen männlichen Vernunft herunterkommst.«
»Ja doch, ja doch. Ich habe schon verstanden. Na schön, du bist zu dem Schluss gelangt, dass Franziska Diebnitz’ Sichtweise der Dinge Sinn haben könnte. Und weiter?«
»Am nächsten Tag habe ich mir auch Abzüge der Fotografien bestellt. Ich wollte die Bilder selber mal unter die Lupe nehmen. Und kaum hatte ich sie fünf Minuten auf dem Tisch … hast du sie dir schon genau angeschaut?«
Prieß verdrehte genervt die Augen. »Wann denn? Ich hatte sie gerade abgeholt und wollte sie im Hotel in aller Ruhe untersuchen, aber dazu kam ich nicht mehr. Dein Bote mit der freundlichen Einladung zum Kaffeeklatsch hat mich ja vorher abgefangen.«
»Dann kannst du es jetzt nachholen«, sagte die Polizeipräsidentin und schob die Fotos zu Prieß hinüber. »Sieh sie dir sorgfältig an. Es gibt da was, das dich stutzig machen sollte.«
Es wäre Friedrich lieber gewesen, hätte Alexandra ihm statt dieses Suchspiels einfach gezeigt, was ihr aufgefallen war. Aber er nahm sich dennoch die Fotos vor und begann, jedes einzelne aufmerksam zu studieren. Da lag er, der tote Oberst, mit von sich gestreckten Armen und einem Loch im Kopf. Doch so konzentriert Prieß die Bilder auch anstarrte, er entdeckte nichts Verdächtiges.
»Ich gebe auf«, sagte er schließlich. »Meine Augen tun schon weh. Verrätst du mir jetzt bitte, was du gesehen haben willst?«
Den spöttischen Unterton in Prieß’ ungeduldiger Aufforderung überhörte Alexandra Dühring gnädig. Sie tippte mit der Fingerspitze auf eines der Bilder, das Diebnitz’ Körper von hinten zeigte. »Was fällt dir an seinen Schuhen auf? Nein, ich will es dir einfacher machen: Siehst du seine Sohlen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ganz normale Sohlen halt. Was soll an denen besonders sein?«
»Du bist mir ein schöner Detektiv. Ich frage mich ernsthaft, warum du mit dieser überragenden Beobachtungsgabe nicht längst verhungert bist«, seufzte Alexandra. »Fritz, diese Sohlen sind sauber! Aber die Leiche liegt fast drei Meter entfernt vom Ende des gepflasterten Weges im Schlamm. Wenn sich Diebnitz tatsächlich dort erschossen haben soll, wo er nachher lag – kannst du mir dann verraten, wie er die drei Meter durch den Matsch gegangen ist, ohne sich die Sohlen schmutzig zu machen?«
»Aber das hieße ja …«
»Dass ihn jemand dorthin getragen hat, nachdem er schon tot war. Ganz genau.«
Mit offenem Mund starrte Friedrich Alexandra an. Es dauerte eine Weile, bis er diese Entdeckung verdaut hatte. Gustav Diebnitz’ Tod erschien nun plötzlich in einem ganz anderen Licht.
»Er wurde ermordet«, sagte Prieß bestürzt. »Seine Frau hatte also wirklich recht …«
»Nicht direkt ermordet, aber er wurde wohl gezwungen, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.« Alexandra Dühring wies mit der Spitze eines Bleistifts auf das Foto, das das verkrustete Loch am Kopf am deutlichsten zeigte. »Ich bin kein Experte für forensische Pathologie, aber das eine oder andere weiß ich. Die Position des Einschusses sieht ganz so aus, als wenn er sich selbst erschossen hätte. Ganz genau könnte man das nur sagen, wenn man bei einer Obduktion den Winkel feststellt, in dem die Kugel in den Schädel eingedrungen ist. Aber da wir seinen Körper nicht haben, muss uns fürs Erste der Augenschein reichen.«
Noch immer konnte Prieß es nicht fassen. »Jemand hat ihn also gezwungen, erst einen Abschiedsbrief zu schreiben … und sich dann umzubringen. Und wer immer dieser Jemand war, wollte nicht, dass die Leiche an ihrem ursprünglichen Ort gefunden wird. Darum hat er sie raus aufs Land geschafft. Liege ich deiner Meinung nach so weit richtig, Alexa?«
Sie nickte. »Zu dem Ergebnis bin ich auch gekommen. Außerdem denke ich, dass mindestens zwei Personen beteiligt waren.«
»Halt, sag nichts … ich glaube, ich weiß, was du meinst. Die Leiche wäre für einen Einzelnen zu schwer, zu unhandlich gewesen, stimmt’s?«
»Ja, das auch. Und dann ist da noch die Sache mit dem Auto. Diebnitz’ Wagen mussten die
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