Kaktus zum Valentinstag
Oft starre ich diese sich ständig ändernden Zahlenwerte an. Vielleicht zu oft. Derweil spielen die anderen unter Deck Tischtennis.
Oder ich bin wieder draußen an Deck. Das Meer ist ruhig. Nur die Sterne begleiten mich. Sie glitzern und funkeln genauso wie das Meer in der dunklen Nacht. Skorpion und Schütze sind zu sehen. Ein toller Sternenhimmel, nie zuvor konnte ich so oft das Zodiakallicht sehen, das Kreuz des Südens anschauen, die Strukturen der Milchstraße imSkorpion und Schützen studieren. Die Bezeichnung »Teepott« für Schütze passt eigentlich viel besser.
Oft starre ich auf den Bildschirm mit den spannenden Meeresbodentopographien, die das Echolotsystem immer weiter wandernd großflächig aufzeichnet. Vor der Echolotanlage, die ich manchmal zu beaufsichtigen habe, beginne ich, alle Tanzfiguren zu tanzen, die ich kenne. Erschreckt stelle ich fest, dass ich leider nicht mehr weiß, wie zum Beispiel die »Cuban Breaks« aus einer Cha-Cha-Cha-Folge gehen. Alle verzweifelten Versuche helfen nichts, es will mir einfach nicht mehr einfallen. Die erste Figur, die dem Vergessen im Meer der Vergänglichkeit geopfert wurde. Still, heimlich und leise. Schade. Alles ist vergänglich. Ob die frische Liebe auch vergänglich ist?
Am 16.7.1992 erreicht mich dann ein Fax von meinem Gnubbelchen:
»Gut neun Wochen noch, bis du wieder da bist. Ich bin nervlich im Augenblick ziemlich kaputt. Seit einer Woche habe ich jetzt schon chronische leichte Bauchschmerzen, vermutlich psychosomatisch. Ich gehe langsam aber sicher ein wie eine Blume, die nur im Dunkeln steht. Sonntag hat mich meine Freundin besucht, war lustig, hat sehr gutgetan. Aber keine Angst, ich werde mich nicht verändern. Ich bin jetzt noch dieselbe und werde es auch bleiben. Ich bin endgültig formatiert. Ich liebe dich. Komm bitte wieder gesund nach Hause, mein Liebster. Ich werde auf dich warten. Deine Martina.«
Ich weiß gar nicht, ob ich mich freuen oder weinen soll. Ich habe es offenbar geschafft, sie trotz aller Widrigkeiten meiner geheimnisvollen Mauer an mich zu binden. Ja, mir scheint es gelungen, sie wie eine neu bespielbare Festplatte zu formatieren. Trotzdem macht es mir zu schaffen, dass sie so traurig ist. Vielleicht habe ich überzogen, unser Leben als kitschigen Liebesfilm zu inszenieren?
So antworte ich am 24.7.1992:
»Meine liebste Martina! 48 Tage sind vorbei, 57 müssen wir noch aushalten. Schon sehr, sehr lange habe ich einen bestimmten Tag nicht mehr so herbeigesehnt wie den 19. September. Ich glaube,Weihnachten in der Kinderzeit, da war das zuletzt so. Erinnerst du dich an Dänisch-Nienhof, die Sonne über dem jenseitigen Ufer?
Die Weiten des Wassers gilt es noch zu überwinden. Bitte halte durch. Es ist eine harte Probe, aber sie wird uns beide firm machen. Der landfernste Punkt ist nun bald überschritten. Um 8 Uhr am 26.7. werden wir die Osterinsel erreichen. Wenn ich dort am 30.7. abfliege, liegt unser Wiedersehen näher als der Abschied. Das Licht nimmt langsam wieder zu, wie die Sonne, die im Winter den tiefsten Punkt überstrichen hat. Bitte gehe nicht ein! Keine Entfernung und keine noch so lange Zeit kann eine einmal gewachsene wahre Liebe wieder brechen. Auch wenn wir räumlich getrennt sind, zeitlich und geistig sind wir es nicht! So mancher Tränenfluss, der meinen Augen entsprang, mündete in die unendlichen, weiten Wasser des Stillen Ozeans, wenn ich abends allein auf dem Achterdeck stand, dem ewig gleichen Rauschen des Fahrtwassers lauschend, am Himmel das Kreuz des Südens anstarrend.
Ich liebe dich sehr, und mit jedem Tag den wir getrennt sind, wird es damit nicht weniger, sondern mehr! Denn erst hier habe ich wirklich gemerkt, was ich zu Hause im Stich gelassen habe. Jawohl, ich bin für dich, was Pater Ralph in ›Dornenvögel‹ für seine Maggie war, nur mit dem Unterschied, dass wir ab dem 19.9. untrennbar zusammengehören wollen. In wahrer Liebe mit vielen Küsschen bis zum nächsten Brief, dein Peter.«
Wie in der Adventszeit vor Weihnachten führe ich eine Strichliste. Soundsoviel Tage Wasser liegen hinter dir, soundso viel Tage Wasser liegen noch vor dir. Das habe ich auf einer Route visualisiert, die über den Ozean führt. Jeder Tag entspricht einem Teil der zu überwindenden Strecke. Darauf streiche ich alle Teile ab, die hinter mir liegen, und zähle den Countdown der noch vor mir liegenden Tage.
Nach zwei Monaten erreichen wir unter dem Kreuz des Südens das Land der Moai – Rapa Nui, die
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