Kaktus zum Valentinstag
tranceartig durch die Gegend fahre, finde ich endlich Ablenkung und Beruhigung. Straßen fahren, das Einzige, was funktioniert. Abreagieren durch Fahren – Fahren – Fahren. Die Beruhigung, die keine Pille der Welt herbeiführen könnte, lässt so nicht lange auf sich warten. Das mittägliche Heiligabendessen zu Hause dürfte derweil immer kälter werden. Aber was soll’s.
Ein Hähnchenessen ohne Bein, das ist sowieso wie kein Essen. Das brauche ich nicht. Das Weihnachtsessen ist so sowieso schon ausgefallen. Da ist eh nichts mehr zu retten. Sollen die doch ohne mich essen. Mir kein Hähnchenbein zu geben, das ist schlimmer, als mich zu verprügeln. Aber das haben die Menschen schon früher in der Schulenicht verstanden. Eine Prügelstrafe war keine Strafe. Man bekommt eine gescheuert, wie ein Gewitterschauer, danach scheint wieder die Sonne. Aber wenn man mir etwas kaputt gemacht hat, dann war das wie Dauerregen. Das tat viel länger weh.
Eine Stunde später kehre ich mit diesen Gedanken nach Hause zurück. Die Mau sagt nur:
»Warum bist du jetzt sauer? Du hättest ja ein Bein kriegen können. Aber du hast nicht klar und deutlich gesagt, wie wichtig dir das ist, so ein Bein zu kriegen. Das kann ich doch nicht wissen, dass da das ganze Weihnachtsfest in Gefahr geraten kann.«
»Ich habe den Kindern das ja gegönnt, ich wusste ja bis eben selber nicht, wie wichtig mir das Hähnchenbein in Wahrheit ist. Ich hab mich auch gefragt, wieso, verdammt noch mal, wieso muss ich das jetzt haben? Ich bin entgleist! Ich fühle mich gepiesackt, ich weiß nicht, warum.«
»Hättest du mir das vorher gesagt, hätte ich dafür plädiert, einen Schenkel dazuzukaufen, damit alle ein Bein bekommen können, die eins haben wollen.«
Erst mit dem abendlichen Gottesdienst verschwinden die restlichen Schmollwolken. Das letzte Weihnachtsfest in Nauheim ist gerettet.
Silencia, meine irdische Oase einer erdfernen Welt
Im Frühling 2004 geht es mit dem Hausbau los. Das Vorhaben beginnt mit dem Bau einer eigenen Zufahrtsstraße, der »Via Silencia«, dem Weg zu unserer Oase der Ruhe. Da ich mit meiner Familie in Nauheim wohne, bin ich gezwungen, das Projekt von dort per Fernmanagement in die richtige Richtung zu lenken.
Jedes Wochenende autobahnen wir nach Gadenstedt, um den Baufortschritt zu überwachen und um natürlich zu begutachten, was die Baufirma zwischenzeitlich abgeliefert hat. Anfängliches Misstrauen kann schnell zerstreut werden, es wird weitestgehend professionell gearbeitet. Wir haben Glück, kleinere Beanstandungen werden problemlos und diskussionsfrei ausgebessert.
Dennoch ist der Weg zum eigenen Heim kein leichter. Es ist eine große Herausforderung, der Baufirma einerseits so genau wie möglichzu sagen, was ich haben will und andererseits immer mal wieder festzustellen, dass Kleinigkeiten doch nicht so gelöst worden sind, wie ich mir das Ergebnis vorstellte, weil die Angaben dafür dann doch wieder nicht genau genug waren. Solche Dinge, die die Mau völlig harmlos findet, machen mir jedes Mal zu schaffen, obwohl es gar keine echten Baumängel sind, sondern einfach nur gegenüber der Vorstellung in meinem Kopf leicht veränderte Lösungen.
Am liebsten hätte ich den Bau vierundzwanzig Stunden am Tag beaufsichtigt, dann wären diese Dinge nicht passiert. Insofern verfluche ich, dass ich in Frankfurt arbeiten muss und nicht einfach die gesamte geplante Projektlaufzeit bezahlten Urlaub haben kann. Denn mein Problem ist, dass ich sowieso nicht parallel an größeren Projekten arbeiten kann, ich also für andere größere Dinge in dieser Zeit sowieso keinen Platz mehr im Kopf habe. Ich verstehe die Menschen nicht, bei denen das funktioniert. Am Ende schaffe ich es, mir die minimal benötigten Freiräume zu schaffen. Dennoch wird sich zeigen, dass ich in der Bauzeit drei große Flüsse überwinden muss, mit denen ich nicht gerechnet habe.
Der erste große Fluss bildet sich bereits im Winter. Ewiges nasskaltes Wetter verhindert den pünktlichen Baubeginn. Die schweren Maschinen können nicht auf das Grundstück fahren, ohne Gefahr zu laufen, im aufgeweichten Boden zu versinken.
Erst im April kann es endlich losgehen. Damit verzögert sich der Baubeginn jedoch um einen Monat, eine weitere Verzögerung dieser Größenordnung würde das Ziel, noch Weihnachten im eigenen Haus zu wohnen, gefährden. Meine Gelassenheit, die ich mir vorgenommen hatte, schmilzt wie Eis in der Sonne.
Es ist der 1. Mai 2004. Der Tag beginnt
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