Kalifornische Sinfonie
»er fließt nach Westen. Aber – ist das irgendwie bedeutungsvoll?«
»Sofern Sie an solchen Dingen Interesse haben, ist es das wohl«, antwortete John. »Wir befinden uns hier auf dem höchsten Punkt des amerikanischen Kontinents. Wir stehen an der großen Wasserscheide.«
Garnet sah staunend auf die Quelle und dann wieder auf Johns ernstes Gesicht mit dem schwarzen, verwilderten Bartwuchs und den grünlichen Augen unter den schwarzen Brauen. Trotz der Verwilderung erschien dieses Gesicht ihr in diesem Augenblick heller und freundlicher, als sie es jemals gesehen hatte. »Was bedeutet: die ›große Wasserscheide‹?« fragte sie. »Ich habe nie davon sprechen hören.«
Er suchte es ihr zu erklären. Er sprach von dem ungeheuren Gebirgszug, der sich einem Gerippe gleich durch den Kontinent zog und das amerikanische Flußsystem teilte. Garnet saß auf einem großen Stein und starrte auf die riesigen rauhen Gebirgsmassen rundum. »Das ist ein erstaunliches Land«, sagte sie schließlich. »Sie haben recht: ›Großartig‹ ist nicht der treffende Ausdruck. Wie würden Sie es nennen? Erhaben?«
John hatte eine Handvoll Kieselsteine aufgegriffen und warf jetzt einen nach dem anderen ins Wasser. »Es mag eher treffen, Mrs. Hale«, sagte er, »ich glaube jedenfalls nicht, daß es einen passenderen Ausdruck gibt. Die zivilisierten Sprachen wurden von Menschen gemacht, die dergleichen nie sahen. Vielleicht werden noch weitere tausend Jahre vergehen müssen, bis es für diese und andere Dinge die passenden Vokabeln gibt.«
»Es ist alles so groß und so weit«, sagte Garnet. »Ich bin heute überzeugt: Bevor ich diese erhabene Weite sah, wußte ich überhaupt nicht, was Größe und Weite heißt. Oliver deutete das schon an, als er im Winter in New York war; es erschien ihm dort alles so klein und so eng. Jetzt weiß ich, was er meinte; damals verstand ich ihn nicht.«
John nahm weiter Steinchen auf und warf sie ins Wasser, als erfreue er sich an dem kleinen dumpfen Geräusch, das sie beim Aufschlagen verursachten. Garnet fuhr fort:
»Wie sollte ich denn auch? Ich hatte Kalifornien noch nicht gesehen.«
Ohne sich umzuwenden sagte John: »Sie werden Kalifornien lieben lernen.«
»Ich glaube es«, sagte Garnet. »Auch Oliver findet, es sei ein herrliches Land.«
»Es ist herrlicher, als Oliver oder irgend jemand andres Ihnen sagen kann.« Er sprach mit leiser, nachhaltiger Stimme. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, es war ihr abgewandt, aber sie fand, es klinge, als spräche ein Mann zu einer geliebten Frau.
»Sie lieben es sehr, nicht wahr?« fragte sie, ebenso leise.
»Ja«, sagte John, »ich liebe es sehr.«
Wenn er doch weitersprechen wollte, dachte sie. Er konnte plastischer und eindringlicher als Oliver erzählen. Sie fragte: »Was lieben Sie vor allem an diesem Land?«
»Die Größe«, sagte John, »die Leere, die Einsamkeit. Und die Blumen. Aber es ist schwer, das alles einem Menschen zu erklären, der noch nicht dort war.«
»Warum ist es schwer?«
»Weil – er wandte den Kopf und lächelte sie über die Schulter hinweg an – »weil Sie es nicht glauben werden, bis Sie es selbst sahen. Niemand glaubt es.«
»Doch«, sagte Garnet. »Ich. Ich glaube Ihnen. Und ich wünschte, Sie würden mir mehr davon erzählen. Gerade weil – verstehen Sie doch – weil diese wasserlosen Strecken so schwer zu ertragen sind. Sie waren schon früher hier, sie haben das Land mehrmals durchquert. Sie wissen genau, was Sie am Ende des Weges erwartet; ich weiß es nicht. Wenn Sie mir davon erzählten, wenn Sie mir ein Bild malten, so, wie Sie es sehen, so würde ich immer daran denken, wenn Durst und Müdigkeit mich zu überwältigen drohen.«
»Ja«, sagte John, »das verstehe ich. Immer wenn wir die trockenen Landstriche durchziehen, denke ich an das Ziel. An den Schnee auf den Gebirgskämmen, und an die meilenweiten farbigen Blumenteppiche.«
Er sah über die kahlen und nackten Felsen hinweg, als sähe er irgendwo dahinter schon die Blumen Kaliforniens. Seine Worte tropften langsam, und seine bedächtige Stimme gewann an Wärme:
»Die Blumen, müssen Sie denken, blühen nicht vereinzelt hier und da. Sie wachsen in riesigen Flächen. Da sind endlose Ackerbreiten voll wildem gelben Mohn, anzusehen wie ein goldenes Laken. Und dahinter dehnen sich Morgen um Morgen blaue Lupinen, rote Sandverbenen und purpurner Salbei – eine endlose Decke voll bunter Farbflecke, soweit das Auge reicht. Die Bergabhänge sind mit
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