Kalifornische Sinfonie
Manuelas Stimme drang aus einem der Schlafzimmer heraus; sie klang weich und süß wie ein Wiegenlied. Garnet tastete sich den Weg zu ihrem Zimmer zurück. Ein Lichtschimmer unter der Tür verriet ihr, daß Florinda die Kerze hatte brennen lassen, um ihr den Weg zu weisen.
Florinda schlief bereits. Garnet trat vor den Spiegel und nahm ihre Haarnadeln heraus. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. In dem düsteren, flackernden Licht schien von ihrem Gesicht ein besonderer Glanz auszustrahlen. Zum ersten Male in ihrem Leben fand sie sich schön.
Als das Mädchen in der Morgenfrühe die erste Schokolade an ihr Bett brachte, sprang sie auf und öffnete die Fensterläden, um nach dem Wetter zu sehen. Der Wind hatte sich gelegt, dafür war Nebel aufgekommen; die Luft war kühl und feucht. Florinda protestierte, und Garnet schloß die Läden wieder. Sich im Bett aufrichtend, begann Florinda ihre Schokolade zu schlürfen, wobei sie wie jeden Morgen über die Leute murrte, die sie veranlaßten, zu mitternächtlicher Stunde aufzustehen. Das wiederholte sich Morgen für Morgen, aber Florinda stand gleichwohl jedesmal auf, denn sie liebte die Morgenritte. Immerhin hatte sie es bei weitem nicht so eilig wie Garnet an diesem Morgen; sie streckte und rekelte sich noch im Bett, als Garnet schon das Zimmer verließ.
»Ich reite heute morgen nicht mit«, sagte Garnet über die Schulter zurück. Sie nannte keinen Grund, aber sie vermutete, daß Florinda ihn ohnehin ahne. Garnet brachte ihr Kind dem Mädchen Louisa, das gerade seine Morgenschokolade trank. Louisa war Stephens Nurse. »Ich mache einen Spaziergang zum Olivenhain«, sagte Garnet, dem Mädchen das Kind in den Arm legend.
Sie ging dann unter den Bäumen entlang. Der Nachtnebel begann sich aufzulösen; im Osten standen die purpurn glühenden Bergspitzen noch zwischen wallenden Schleiern. Die Bäume glänzten vor Feuchtigkeit. Wenn sie mit dem Kopf einen Zweig streifte, warfen die Blätter einen kleinen Sprühregen über ihre Wangen. Sie hörte das Zwitschern der Vögel und sog den Duft der Blumen und Gräser in die Lungen. Der Pfad, auf dem sie ging, machte einen Knick, und jenseits der Biegung erblickte sie John.
John hatte einen Fuß auf eine Ziegelbank gesetzt und den Ellbogen auf das Knie gestützt und beobachtete einen schwarzgoldenen Schmetterling, der sich auf einen Zweig niedergelassen hatte. Als er das leise Rascheln ihrer Röcke vernahm, wandte er den Kopf, nahm den Fuß von der Bank und ging ihr entgegen. Er nahm ihre Hände auf und küßte ihre Handflächen. Dabei lachte er sie an, als sei er mit ihr in heimlichem Komplott, ein Geheimnis mit ihr teilend, das niemand außer ihnen kannte. »Garnet«, sagte er, »ich mag dich verdammt gern, und du weißt das wohl. Warum hast du mich also nicht bis zum Mittag warten lassen?«
»Bis zum Mittag?« lachte sie. »Das hätte ich wahrhaftig nicht ausgehalten.«
»Siehst du«, sagte er, »das ist der Grund, weshalb ich dich mag. In dir ist keine Koketterie, du gehst keine Umwege und spiegelst einem nichts vor. Komm her.« Er führte sie zu der Bank zurück, ließ sie niedersitzen und setzte sich neben sie. Er legte ein Bein über das andere und umschlang das Knie mit den Händen. Mit einem leichten Zucken um die Mundwinkel sagte er: »Soll ich mich entschuldigen, weil ich in der Nacht so impulsiv handelte? Du mußt aber wissen: Es tut mir nicht leid, und ich bereue es gar nicht.«
»Es tut mir ebensowenig leid«, lachte Garnet. Ach, sie war ja so froh. Er liebt mich, wie ich bin, dachte sie. Und laut setzte sie hinzu: »Jetzt kann ich dich endlich etwas fragen. Warum dauerte es so lange, bis du zurückkamst? Und warum hast du mir nur diesen nichtssagenden kleinen Zettel geschickt, anstatt selbst mit Nikolai herzukommen?«
»Das weißt du noch nicht?« sagte John.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich hatte Angst«, sagte er.
»Angst?« echote Garnet. »Du hast doch vor nichts Angst.« Irgendwo in ihrem Kopf hörte sie eine Stimme raunen: »Vor nichts, worauf er schießen kann.« Sie konnte sich im Augenblick nicht erinnern, wer das gesagt hatte, und sie wünschte, die Zeile wäre ihr nicht gerade jetzt ins Gedächtnis gekommen. Sie drängte deshalb die Erinnerung gewaltsam zurück und rief: »Wovor hattest du Angst?«
»Vor dir«, sagte John.
»Vor mir? O John, Lieber!« Sie zog die Hände von seinem Knie und hielt sie fest. »Hattest du Angst, ich – ich könnte ›nein‹ sagen?«
»Im Gegenteil. Ich hatte Angst,
Weitere Kostenlose Bücher