Kalix - Die Werwölfin von London
reichlich unerwünschte Aufmerksamkeit ernten würde, wenn sie in Camden vor der U-Bahn-Haltestelle stand. Weil sie dachte, dass ihr die Arbeit in Begleitung leichterfallen würde, wählte sie Kalix aus und bot ihr Geld dafür an.
Kalix hätte wahrscheinlich auch mitgemacht, ohne bezahlt zu werden. Die Atmosphäre im Haus war immer noch angespannt, und sie wollte schon seit der ereignisreichen Nacht im Park mehr über Dominil erfahren. Kalix zog einen zu großen Pullover an, den Daniel ihr gegeben hatte, hüllte sich in ihren Mantel und huschte hinaus in die Kälte. Mit der U-Bahn fuhr sie von Kennington nach Camden, wo Dominil schon auf sie wartete.
»Ich habe das noch nie gemacht«, sagte Kalix.
»Ich auch nicht«, antwortete Dominil, holte einen Packen Flyer aus ihrer Tasche und gab ihn Kalix. »Gib einfach jedem, der vorbeikommt, einen Zettel.«
Obwohl in Camden immer irgendjemand Flyer verteilte und die meisten Leute sie geflissentlich ignorierten, hatten Dominil und Kalix keine Probleme, ihre loszuwerden. Ihre Fremdartigkeit und ihre Schönheit wirkten auf fast alle Passanten wie ein Magnet. Schon ihr Haar erregte Aufsehen. Dominik fiel lang und schneeweiß auf ihren schwarzen Ledermantel, Kalix reichte das Haar dick und glänzend bis zur Taille. Kalix war so dünn, dass sie fast nur aus Haar zu bestehen schien. Gesundheitlich ging es ihr besser, und obwohl sie immer noch sehr blass aussah, waren ihre großen Elfenaugen nicht mehr stumpf, sondern glänzend.
Die beiden Werwölfinnen bekamen bald die unerwünschte Aufmerksamkeit zu spüren, die Dominil vorausgesehen hatte. Nachdem sie den zwanzigsten Mann verjagt hatte, der neben ihnen stehen geblieben war, um über den Gig zu reden, über das Wetter oder irgendwas anderes, schürzte Dominil die Lippen.
»Das ist genauso lästig, wie ich es mir vorgestellt hatte.«
Kalix zuckte mit den Schultern.
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»Wir haben eine Menge Flyer verteilt.«
Das stimmte. Für einen ersten Versuch waren sie erfolgreich gewesen. Dominil schlug vor, in eine Kneipe zu gehen, und Kalix folgte ihr über die Straße.
Dominil fragte Kalix, ob sie etwas essen wollte. Als Kalix den Kopf schüttelte, kaufte die weißhaarige Werwölfin zwei Flaschen Bier. Plötzlich wurde Kalix unruhig. Draußen hatte sie sich gut gefühlt, aber jetzt fragte sie sich, ob Dominil ihr einen Vortrag über Familienangelegenheiten halten wollte. Kalix ging meistens davon aus, dass jedes Mitglied ihrer Familie ihr über irgendetwas einen Vortrag halten wollte.
»Danke für das Buch«, sagte sie.
»Danke, dass du mir das Leben gerettet hast«, antwortete Dominil.
Recht steif saßen sie beisammen. Beiden lag lockeres Geplauder nicht. Dominil fragte höflich, wie Kalix sich mit ihren neuen Freunden verstand.
»Es ist ganz schrecklich«, antwortete Kalix zu Dominik Erstaunen.
»Ich hatte gehört, dass du mit Daniel und Moonglow gut auskommst.«
»Moonglow ist deprimiert, Daniel ist unglücklich, und wir haben uns gestritten.«
Kalix erzählte Dominil von ihren jüngsten Erlebnissen zu Hause.
»Das klingt nicht nach ernsten Problemen«, tat Dominil es ab. »Nur nach dem Üblichen, mit dem man rechnen muss, wenn man mit anderen zusammenwohnt. Ich habe unter dem schwachsinnigen Verhalten von Beauty und Delicious auch zu leiden.«
Wenn sie es recht bedachte, fand Kalix, war es vielleicht gar nicht so schlimm.
»Aber ich kann es nicht leiden, wenn mir jemand Vorträge hält«, fuhr sie fort.
»Wieso halten sie dir denn Vorträge?«
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»Weil ich nicht esse. Und mich schneide.«
Kalix sah Dominil trotzig an.
»Und halt mir keinen Vortrag«, sagte sie.
»Mir ist es egal, wenn du dich zu Tode hungerst oder verblutest«, antwortete Dominil und meinte es offenbar ernst. Kalix war überrascht. Dominil gab ihr eine kleine Tüte. Darin war etwas Geld und eine Flasche Laudanum.
»Für deine Hilfe.«
Zwei junge Männer in Lederjacken kamen zögerlich näher und fragten, ob sie sich zu ihnen an den Tisch setzen durften. Als Dominil die Zähne bleckte und sie anknurrte, gingen sie rasch wieder.
»Kann ich zu dem Gig kommen?«, fragte Kalix. »Natürlich. Wir setzen dich auf die Gästeliste.« Das gefiel Kalix. Sie hatte noch nie auf einer Gästeliste gestanden. Es hörte sich wichtig an. »Wann ist er?«
»Das steht auf dem Flyer«, antwortete Dominil. Kalix sah sich den Flyer an.
Dominil bemerkte gleich, dass Kalix Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Kannst du nicht lesen?« Kalix errötete. »Ich kann
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