Kalle Blomquist
ich nicht mein Essen kriege.«
Nicke fluchte und ließ sie los. Er ging auf die Tür zu.
»Jaja, du sollst zu essen haben«, sagte er. »Haben die Gnä-digste besondere Wünsche?«
»Hm, na – Schinken und Ei vielleicht«, sagte Eva-Lotte. »So etwas mag ich zum Frühstück recht gern. Und die Eier auf beiden Seiten gebraten, bitte sehr! Und vor allem: schön mit Tempo, etwas schneller, wenn ich bitten darf.«
Nicke schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.
Eva-Lotte hörte, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde.
Und sie hörte, wie Nicke in ganzen Serien fluchte.
Bald danach aber hörte sie etwas anderes, etwas, was sie mit grenzenloser Freude erfüllte. Sie hörte, wie ganz leise vor ihrem Fenster das Signal der Weißen Rosen gepfiffen wurde. Ganz leise – aber herrlicher als alle Harfentöne des Himmels.
SECHSTES KAPITEL
Kalle wachte mit einem Ruck auf. Ziemlich verwirrt sah er sich um. Wo war er? War es Abend oder Morgen? Und warum lag dort Anders?
Langsam begann es sich in seinem Gehirn zu klären: Es war Abend. Er lag in einer Hütte, die er zusammen mit Anders gebaut hatte. Die letzten Strahlen der Sonne färbten draußen die Kiefern bei den Felsen rot. Und Anders lag einfach dort, weil er übermüdet war. Was für ein Tag! Strenggenommen, hatte er ja bereits gestern abend in der Schloßruine begonnen. Und jetzt war wieder Abend. Fast den ganzen Nachmittag hatten Anders und er geschlafen. Der Schlaf war nötig gewesen. Vorher aber hatten sie sich noch diese wunderbare Hütte gebaut.
Kalle streckte seine Hand aus und betastete die Wand aus Tannenzweigen. Ja, er liebte diese Hütte! Sie war jetzt ihr Zu-hause, ein kleiner Ort des Friedens, den sie sich, so weit als irgend möglich von den Kidnappern entfernt, geschaffen hatten.
Hier konnte keiner sie finden. Die Reisighütte lag eingebettet in einer Mulde zwischen zwei Felsen. Wenn man nicht direkt auf sie zukam, war es sehr schwer, sie zu entdecken. Hier war Schutz vor allen Winden und weiches Tannengrün, darauf zu schlafen. Die Felsen hatten noch viel von der Sonnenwärme des Tages aufgespeichert; zu frieren brauchten sie in der Nacht nicht. Ja, es war eine wunderbare Hütte.
»Bist du hungrig?« fragte Anders. Es kam so unerwartet, daß Kalle zusammenzuckte.
»Bist du aufgewacht?«
Anders setzte sich auf seinem Bett aus Tannenzweigen auf.
Seine Haare waren struwwelig, und auf einer Backe zeigte sich ein zierliches rotes Tannenzweigmuster.
»Ich bin so hungrig, ich glaube, ich könnte jetzt sogar gekochten Schellfisch essen«, stöhnte er.
»Sprich nicht davon, Anders«, sagte Kalle. »Ich wollte gerade hinausgehen, um etwas Borke von den Bäumen abzunagen.«
»Ja, ja, wenn man einen langen Tag von Blaubeeren gelebt hat, möchte man ja schließlich abends etwas Hartes zwischen die Zähne kriegen«, gab Anders zu.
Eva-Lotte war ihre einzige Hoffnung. Sie hatte ihnen versprochen, etwas zu essen zu beschaffen. »Ich werde Nicke um den Verstand bringen«, hatte sie gesagt. »Ich werde ihm erzählen, daß der Doktor mir verordnet hat, jede, aber auch jede Stunde zu essen. Ihr werdet schon nicht verhungern, keine Angst! Kommt zurück, wenn es dunkel wird.«
Das war am Morgen gewesen. Sie hatten vor Eva-Lottes Fenster gestanden und gepfiffen, bereit, beim ersten Zeichen von Gefahr zu fliehen. Und als Nicke mit Eva-Lottes Frühstück zurückkam, hatten sich Anders und Kalle davongeschlängelt wie zwei aufgescheuchte Eidechsen. Im Nu waren sie verschwunden, obwohl ihnen der Duft von dem gebratenen Schinken nicht aus der Nase ging. Sie hörten nur noch Eva-Lottes bitteren Vorwurf gegen Nicke: »Glaubst du, ich bin hierhergekommen, um Hunger-kuren mitzumachen?« Nickes Antwort ging ihnen verloren. Die Eidechsen waren bereits tief im Wald verschwunden.
Sie waren dann zur anderen Seite der Insel übergewechselt.
Dort hatten sie den Tag damit zugebracht, ihre Hütte zu bauen, bei den Felsen zu baden, zu schlafen und Blaubeeren zu essen.
Viel zuviel Blaubeeren. Und jetzt waren sie hungriger, als sie je für menschenmöglich gehalten hatten.
»Aber wir müssen ja warten, bis es dunkel wird«, sagte Anders finster.
Sie krochen aus der Hütte und kletterten auf den Felsen. In einer Spalte machten sie es sich bequem, um die Nacht und das Dunkel, die Rettung vor dem Hungertod, abzuwarten. Da saßen sie nun und beobachteten mit sauren Gesichtern den schönsten Sonnenuntergang ihres Lebens und empfanden wirklich deutlich nur die
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