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Kalle Blomquist

Kalle Blomquist

Titel: Kalle Blomquist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
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abgelenkt wurde. Er fühlte den Dietrich unter seinem nackten Fuß. Jetzt müßte er ihn aufheben und zu Onkel Einar sagen: »Du hast das hier verloren!« Aber er konnte es nicht über sich bringen. Statt dessen steckte er den Dietrich unbemerkt in seine Tasche.
    »Auf die Plätze!« rief der Zirkusdirektor. Und Kalle tat einen Sprung auf das Schaukelbrett.
    Ein hartes Leben ist das der Zirkuskünstler! Training, immer nur Training! Die Junisonne brannte, und der Schweiß rann den »Drei Desperados, die beste Akrobatentruppe Skandinavi-ens« herunter. So bezeichnete Eva-Lotte sie auf den hübsch gemalten Plakaten, die überall an den Hausecken der Umgebung angeklebt waren.
    »Wollen die drei Desperados nicht jeder eine Schnecke haben?« Bäckermeister Lisanders freundliches Gesicht kam im Fenster der Bäckerei zum Vorschein.

    »Danke«, sagte der Zirkusdirektor. »Vielleicht später. Hungrige Hunde jagen am besten.«
    »Das ist das Unglaublichste, was ich je erlebt habe«, sagte Eva-Lotte. Die Konfekttüte war schon lange leer, und sie hatte das Gefühl, als ob ihr Magen es auch wäre nach all der Turnerei.
    »Ja, wir können doch mal eine kleine Pause machen«, sagte Kalle und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
    »Es hat wohl keinen Zweck, daß ich Zirkusdirektor bin, wenn ihr bestimmen wollt.« Anders war unwirsch. »Das sind schöne Desperados, muß ich sagen! Schneckendesperados müßte eigentlich auf den Plakaten stehen.«
    »Essen muß man, sonst stirbt man«, sagte Eva-Lotte und lief in die Küche nach Fruchtsaft.
    Und als der Bäckermeister dann eine ganze Tüte voll mit frischen Schnecken durch das Fenster reichte, gab der Zirkusdirektor seinen Widerstand seufzend, aber im stillen ganz zufrieden auf. Er tauchte die Schnecken ein und aß mehr als die anderen. Es war selten, daß es bei ihnen zu Hause Schnecken gab, und es waren so viele, mit denen er teilen mußte. Allerdings sagte der Vater stets und ständig: »Jetzt sollst du mal Schnecken zu sehen bekommen!« Aber damit meinte er dann niemals Weißbrot, damit meinte er Prügel! Und da Anders fand, daß er genügend von dieser Ware bekommen hatte, hielt er sich soviel wie möglich von zu Hause weg. Ihm gefiel die Atmosphäre bei Kalle und Eva-Lotte besser.
    »Dein Alter ist verdammt nett«, sagte Anders.
    »Gibt’s nicht so bald wieder«, gab Eva-Lotte zu. »Und lustig ist er auch. Er ist so furchtbar ordentlich, daß Mutter sagt, sie wird ganz kaputt davon. Und das Schlimmste für ihn sind Kaffeetassen mit abgeschlagenen Ohren. Er sagt, daß Mutter und ich und Frida nichts anderes machen als die Ohren von den Kaffeetassen abschlagen. Gestern kaufte er zwei Dutzend neue, und als er damit nach Hause kam, nahm er einen Hammer und schlug alle Ohren ab. ›Damit ihr euch die Mühe spart‹, sagte er, als er sie in die Küche brachte. Mutter lachte dermaßen, daß sie Bauchschmerzen bekam.« Eva-Lotte nahm eine neue Schnecke.
    »Aber den Onkel Einar kann Vater nicht leiden«, setzte sie hinzu.
    »Vielleicht schlägt er ihm auch die Ohren ab«, schlug Anders vor und hieb seine Zähne in eine Schnecke.
    »Das weiß man nicht«, sagte Eva-Lotte. »Vater sagt, daß er ganz gewiß verwandtschaftliche Gefühle habe, aber wenn er alle Kusinen und Vettern und Tanten und Onkel von Mutter im Hause herumlaufen hätte, dann möchte er wünschen, er säße in einer Einzelzelle in irgendeinem abseits gelegenen Gefängnis.«
    »Ich glaube, da sollte Onkel Einar lieber sitzen«, sagte Kalle schnell.
    »Haha, du hast natürlich herausbekommen, daß es Onkel Einar war, der den Mord in Stockholm begangen hat, was?«
    »Spotte du nur«, sagte Kalle. »Ich weiß, was ich weiß.«
    Anders und Eva-Lotte lachten.
    »Ja, was weiß ich denn eigentlich«, dachte Kalle eine Weile später, als die Proben für heute zu Ende waren. »Ich weiß überhaupt nichts – das ist alles, was ich weiß.«
    Er war mißgestimmt. Aber da fiel ihm plötzlich der Dietrich ein. Er wurde ganz zapplig vor Spannung und Erwartung. Er hatte einen Dietrich in der Tasche, und auf irgendeine Weise mußte er versuchen, ihn auszuprobieren. Alles, was er brauchte, war eine verschlossene Tür. Warum nicht mit der gleichen Tür versuchen, die Onkel Einar geöffnet hatte? Die Tür zum Kellergeschoß in der Schloßruine!
    Kalle überlegte nicht lange. Er rannte durch die Straßen, aus Furcht, einen Bekannten zu treffen, der sich ihm anschließen wollte. Und als er am Hochplateau angekommen war, rannte er die

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