Kalle Blomquist
auf. Aber es half nichts. Man hörte den Mann einen leisen Pfiff ausstoßen, und im nächsten Augenblick hatte er den Fuß auf das Paket gesetzt.
ZWEITES KAPITEL
»Und wie heißt du, meine schöne junge Dame?« fragte der Mann eine Weile später Eva-Lotte, die mit ihren beiden Beglei-tern hinter der Hecke hervorgekrochen war.
»Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte furchtlos.
»Das habe ich mir doch gedacht«, sagte der Mann. »Wir sind alte Bekannte, will ich dir sagen. Ich habe dich gesehen, als du so klein warst, daß du noch in der Wiege gelegen und den ganzen Tag geschrien hast.«
Eva-Lotte warf den Kopf zurück. Sie konnte nicht glauben, daß sie jemals so klein gewesen war.
»Wie alt bist du jetzt?« fragte der Mann.
»Dreizehn Jahre«, sagte Eva-Lotte.
»Dreizehn Jahre! Und zwei Kavaliere hast du schon! Einen hellen und einen dunklen. Du scheinst die Abwechslung zu lieben«, sagte der Mann mit einem kleinen gewollt neckischen Lachen.
Eva-Lotte warf noch einmal den Kopf zurück. Sie hatte es nicht nötig, hier zu stehen und sich Bosheiten von jemand anzuhören, den sie nicht kannte.
»Wer sind Sie denn?« fragte sie.
»Wer ich bin? Ich bin Onkel Einar, ein Vetter deiner Mutter, meine schöne junge Dame!« Er zog Eva-Lotte an einer ihrer blonden Locken. »Und wie heißen deine Kavaliere?«
Eva-Lotte stellte Anders und Kalle vor, und ein dunkler und ein blonder Schopf Schossen mit einer tadellosen Verbeugung nach vorn.
»Nette Jungen«, sagte Onkel Einar billigend. »Aber heirate sie nicht! Heirate lieber mich«, fuhr er fort und stieß ein wieherndes Gelächter aus. »Ich werde ein Schloß für dich bauen, wo du den ganzen Tag umherlaufen und spielen kannst.«
»Sie sind ja viel zu alt für mich«, sagte Eva-Lotte recht naseweis.
Anders und Kalle fühlten sich etwas beiseite geschoben. Was war das nur für ein langes, klappriges Stück Unglück, das plötzlich hier auftauchte?
Personalbeschreibung – wollen mal sehen, sagte Kalle für sich.
Aus Prinzip merkte er sich das Aussehen aller unbekannten Personen, die ihm in den Weg kamen. Wer weiß, wie viele von ihnen wirklich anständige Menschen waren! Personalbeschreibung: braunes, hochgestrichenes Haar, braune Augen, zusammenge-wachsene Augenbrauen, gerade Nase, leicht vorstehende Zähne, kräftiges Kinn, grauer Anzug, braune Schuhe, kein Hut, brauner Reisekoffer, nennt sich Onkel Einar. Das war wohl alles. Nein –er hatte ja eine kleine rote Narbe auf der rechten Wange. Kalle merkte sich alle Einzelheiten.
»Ist deine Mutter zu Hause, Jungfer Naseweis?« fragte Onkel Einar.
»Ja, da kommt sie.«
Eva-Lotte zeigte auf eine Dame, die gerade durch den Garten kam. Sie hatte die gleichen lustigen blauen Augen und das gleiche blonde Haar wie Eva-Lotte.
»Habe ich das Vergnügen, wiedererkannt zu werden?« Onkel Einar verbeugte sich.
»Was in aller Welt – bist du es, Einar? Es ist, weiß Gott, eine Weile her, seit man dich gesehen hat. Wo kommst du her?«
Frau Lisanders Augen waren ganz groß vor Überraschung.
»Vom Mond«, sagte Onkel Einar. »Um euch in eurem ruhigen Winkel etwas aufzuheitern.«
»Er kommt gar nicht vom Mond«, sagte Eva-Lotte ärgerlich.
»Er ist mit dem Sechsuhrzug gekommen.«
»Der gleiche alte Spaßmacher«, sagte Frau Lisander. »Aber warum hast du nicht geschrieben, daß du kommen willst?«
»Nein, kleine Kusine, schreibe niemals etwas, was du persönlich ausrichten kannst, das ist mein Wahlspruch. Du weißt, ich bin einer von denen, die tun, was ihnen gerade einfällt. Gerade jetzt fand ich, daß es schön wäre, eine Zeitlang Ferien zu machen, und da fiel mir plötzlich ein, daß ich eine ungewöhnlich nette Kusine habe, die in einer ungewöhnlich netten kleinen Stadt wohnt. Willst du mich aufnehmen?«
Frau Lisander überlegte schnell. Es war nicht so leicht, stehenden Fußes Gäste aufzunehmen. Na ja, er konnte das Giebelzimmer haben.
»Mit einer ungewöhnlich netten kleinen Tochter«, sagte Onkel Einar und kniff Eva-Lotte in die Wange.
»Ach, laß doch das sein«, sagte Eva-Lotte, »das tut ja weh!«
»Das war auch beabsichtigt«, sagte Onkel Einar.
»Ja, natürlich bist du willkommen«, sagte Frau Lisander.
»Wie lange hast du Ferien?«
»Nja, das ist noch nicht bestimmt. Offen gesagt, ich habe die Absicht, mit meiner Firma Schluß zu machen. Ich denke beinahe daran, ins Ausland zu gehen. In diesem Land hier hat man keine Zukunft. Hier stehen alle und treten auf dem gleichen Fleck.«
»Das ist nicht
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