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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Augenlider bebten, spürte, wie meine Furcht schwand.
    Und ich hörte Noni aufschreien: Domenico ...
    Du verräterisches Feuer, entfacht bei der Geburt des Kindes ... Sogleich hatte ich eine Vision:
    Ich sehe die Silhouette eines großen, stämmigen Mannes. Er steht vor einem Altar, einem Würfel aus Onyx. Auf der glatten Oberfläche befinden sich zwei Kerzen, eine weiße und eine schwarze, daneben eine weiße Taube in einem kleinen Holzkäfig, Salz, zu einem Kreis ausgestreut, und ein goldenes Weihrauchfass. Aus dem Fass steigen Rauchsäulen auf, und hinter dem dichten, nach Myrrhe duftenden Schleier tanzen Fresken von heidnischen Göttern in den wabernden Schatten. Hier vereinigt sich Mars mit einer perlmuttfarbenen Venus, deren Haar in goldenen Wogen herabfällt und sie beide bedeckt; dort liegt die sterbende Leda im Schatten eines großen Sehwanenflügels. Direkt über dem Kopf des Mannes glitzern Sterne und astrologische Zeichen in der Kuppel. Vor ihm ist ein magischer Kreis - mit Symbolen für Feuer, Wasser, Erde und Luft - in das glitzernde Mosaik eingelassen, das den weißen Marmorfußboden ziert.
    Ein goldener Leuchter, ebenso groß wie der Mann, schmückt jeweils eine Ecke: Der im Osten, direkt hinter dem Altar, hat die kunstvoll herausgearbeitete Statur eines Adlers, der im Süden die Gestalt eines Löwen. Westen und Norden sind durch das Gesicht eines Mannes und eines Stieres dargestellt. Auf jeder Halterung flackert eine Wachskerze und vermehrt den Glanz der Kerzen auf dem Altar. Eine Frau, geschmückt mit der Sonne, flüstert mir der Zauberer zu, steht auf dem Mond, sie ist gekrönt von zwölf Sternen. Von Wehen gepeinigt, schreit sie auf ...
    Er tritt vor an den Altar und öffnet den kleinen Holzkäfig. Als er seine Hand hineinsteckt, schreckt die Taube darin zurück und dreht ruckartig den Kopf, um ihn mit einem vollkommen ausdruckslosen rosa Auge anzustarren. Sowie sich seine Hand über ihren Rücken legt, versucht sie, sich aufzurichten, und sträubt das Gefieder, sodass Flaum und Federn in den rauchigen Dunst wirbeln. Doch als der Zauberer sie nach vorn zieht und ihr sanft über die Flügel streicht, kommt sie widerstandslos in seiner Hand zur Ruhe.
    So ein kleines Leben. Die Taube in seiner Hand ist nicht mehr als ein weicher, gewichtloser, warmer Fleck mit einem schnell pochenden Herzen. Der Zauberer streichelt sie flüchtig und ist in Gedanken darauf konzentriert, was dieses kleine Leben einmal erringen wird, bis der Vogel sich so weit beruhigt hat, dass er sich zu putzen beginnt und nach einer Feder auf seiner Brust pickt. Abrupt nimmt der Zauberer den schmalen Hals der Taube zwischen Daumen und Mittelfinger und dreht ihn zu einer Seite, bis er spürt und hört, wie die zarten Röhrenknochen knacken. Gleichzeitig entleert sich die Taube in seine Hand.
    Ohne Reaktion nimmt er den schlaffen Vogel in die andere Hand und lässt die grünlich weiße, dickflüssige Masse von seinen Fingern auf den Marmorboden tropfen, dann wischt er sie rasch an seiner Robe ab, ehe er den Vogel in den kleinen Salzkreis auf dem glänzenden schwarzen Altar legt.
    Nun nimmt er den Dolch, den er ausschließlich für Rituale verwendet, von seinem Gürtel. Die Klinge blitzt einmal, zweimal im Kerzenlicht auf, während er der Taube den Kopf abtrennt. Heißes Blut schießt heraus auf den Dolch und seine Finger, färbt weiße Federn hellrot und sammelt sich zu einer kleinen Pfütze vor dem Wall aus Salz. Sogleich tritt der Zauberer zurück und errichtet mit der Kraft seiner Gedanken einen schützenden Kreis um sich, der die Taube und den Altar ausschließt. Nachdem die Barrieren sicher stehen, ruft er mit donnernder Stimme einen Dämonen beim Namen, der ihm zuvor schon oft gute Dienste geleistet hat, gegenwärtig jedoch keine Aufgabe erfüllt. Er befiehlt ihm im Namen aller Heiligen, sich im Salzkreis zu zeigen.
    Weniger begabte Menschen oder solche mit geringer Erfahrung würden vielleicht die feineren Zeichen übersehen: die merkwürdige körperliche Empfindung, als würde kühle Seide langsam über die Haut gezogen, das plötzliche Flackern der Kerzen auf dem Altar, das Todeszucken der Taube. Das Weihrauchfass stößt Rauch in dicken Wolken aus, die über den toten Vogel hinwegstreifen, sich langsam zu einer Säule emporwinden und dort schwebend versammeln, bis sich schließlich ein Gesicht im Rauch bildet. Es ist eine grässliche Fratze, das Antlitz eines Wolfs mit langen, tödlichen Reißzähnen und einer

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