Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Heilkraft gezielt einzusetzen, dabei widmete ich mich meist kleineren Verletzungen -einer offenen Wunde hier, einem Biss da -, die längst nicht so gefährlich waren wie Jacques' Wundfieber. Die von der Pest Heimgesuchten wurden entweder nach angemessener Zeit von selbst wieder gesund, oder ihr Zustand verschlechterte sich, und sie starben trotz meiner heilenden Hände. Als ich mich bei Geraldine einmal über meine Misserfolge beklagte, entgegnete sie schlicht: »Ihr müsst Euch selbst vergessen, ebenso den menschlichen Körper, in dem Ihr wohnt, und nur an die Göttin denken.« Tatsächlich gelang es mir schließlich, über längere Zeiträume an die Göttin zu denken und jenen magischen Zustand der Ruhe, der Gnade, des Gefühls Ihrer lebendigen Gegenwart zu erreichen. Bei diesen Gelegenheiten begann ich auch, über meine Furcht nachzudenken. Denn nur wenn ich sie besiegte, war ich stark genug, mich und andere zu schützen und damit meine Schwestern anzuleiten, dasselbe zu tun.
Nur wenn Ihr stark genug seid, sagte mir Geraldine, werdet Ihr Eurem Herrn wahrhaftig begegnen, nur dann werdet Ihr imstande sein, ihn zu weihen, wenn Euer Herz bereit ist.
Daher übte ich mich zunächst darin, an den Feind Domenico zu denken, bis ich ihn, nachdem ich gelernt hatte, mein Zweites Gesicht zu lenken und meinen Schrecken zu überwinden, deutlich vor mir sehen konnte und nichts anderes spürte, als das Mitgefühl der Göttin. Solchermaßen gestärkt, beschäftigte ich mich mit allen möglichen Arten von Furcht, einschließlich meiner speziellen Abneigung gegen Feuer und den damit verbundenen Schmerz, an den ich mich nur zu gut erinnern konnte. Allerdings vergingen mehrere Jahre, bis ich in der Lage war, solche Dinge im Geiste hervorzurufen und in ihrem Angesicht gelassen zu bleiben. Ich konnte es mir einfach nicht erlauben, auch nur einen Hauch von Finsternis in der Seele zu haben, da sie umgehend gegen mich gekehrt werden könnte.
Ich lernte also, meinen gegenwärtigen Feind anzuschauen und hatte schließlich sogar die Kraft, sein Antlitz mit Gleichmut zu betrachten, da hielt Mutter Geraldine mich eines Abends nach dem Kreis zurück, als alle anderen das feuchte kleine Gewölbe schon verlassen hatten. Wir saßen nebeneinander auf den Fersen, die Schienbeine auf den kalten Boden gedrückt, und eine Kerze vertrieb die Dunkelheit zwischen uns.
»Es ist nicht genug«, begann sie; die Kerzenflamme warf einen schwankenden Lichtkegel auf ihre Brust, das Kinn und die Lippen, ließ indes ihre Augen und die Stirn im Dunkeln, »dass Ihr unseren Feind in der Vergangenheit und in der Gegenwart gesehen habt. Ihr müsst den Feind betrachten, der Euch in der Zukunft erwartet. Dies ist die letzte und größte Furcht, die Ihr besiegen müsst.« Ich zögerte und öffnete den Mund, um zu widersprechen, um ihr zu sagen ich kann nicht, doch sie schnitt mir das Wort ab: »Ihr müsst verstehen, dass diese Furcht Euch als Heilerin einschränkt. Ihr vergesst dann, wer Ihr seid, Ihr erinnert Euch nur an die Schwester Marie Sybille und vergesst, dass Ihr auch die Göttin seid. Doch Eure Einschränkungen sind auch Ihre.«
Inzwischen war ich daran gewöhnt, mich die meiste Zeit über in der Gegenwart der Göttin aufzuhalten, vielleicht war ich auch ein wenig stolz darauf geworden, denn als die Äbtissin sprach, beschämte mich das Entsetzen, das in mir aufstieg. Ich wusste, sie redete vom größten Übel, das uns bevorstand. Ich hatte mich nicht überwinden können, dieses Böse anzusehen, als Jakob mich bei meiner ersten Weihe dazu gedrängt hatte. Damals, außerhalb meines ersten und letzten Kreises mit Noni als Priesterin, hatte ich die reine Hoffnungslosigkeit, die reine Leere erblickt. Das Böse wartete auf mich, und ich dachte: Wie soll ich es nur mit Frieden im Herzen anschauen, wenn ich nicht einmal ertragen kann, dass es erwähnt wird?
Doch ich wusste, dass meine Ausbildung ausschließlich auf dieses Ziel ausgerichtet war, und dass ich erst dann bereit wäre, meinem Geliebten zu begegnen, wenn ich es erreicht hatte. Vorsichtig begann ich also, mich im Kreis und in der geistigen Versenkung heranzutasten, und durch diese Vorsicht misslang es mir wieder und wieder. Doch meine Aufmerksamkeit wurde bald von einer anderen Bedrohung abgelenkt.
So lange ich mich erinnern konnte, lagen wir mit England im Krieg, dabei hatte ich ihn nie aus erster Hand miterlebt. Die gelegentlichen Gefechte hatten sich bisher stets nördlich von unserer Gegend
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