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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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hervorschnellenden Zunge ähnlich der einer Schlange ... Der Dämon will dem Zauberer unbedingt Furcht einjagen, damit er flieht, will ihn hereinlegen, damit er seinen schützenden Kreis verlässt. Nur dann könnte er ihn beherrschen und nicht umgekehrt - mit Furcht kann dieses Wesen nämlich am leichtesten erreichen, was es will. Der Magier ist sich dessen bewusst und erlaubt sich nicht die Spur von Furcht. Wenn er auch nur im Geringsten reagieren wollte, würde er eher über den um Tapferkeit bemühten Geist lachen, um ihn daran zu erinnern, dass er in seiner, des Magiers, Macht stehe.
    Als der von Rauch umhüllte Dämon innerhalb des Rauchs vollends Gestalt angenommen hat, spricht der Magier noch einmal seinen Namen aus und befiehlt: »Du wirst die Person zerstören, die ich suche, die Person, der klarere Visionen gegeben sind als mir. Und so soll es geschehen ...« Dann zieht er eine lange Wachskerze aus seiner Robe und
    hält sie mit dem Docht an die Spitze der Kerze in der westlichen Ecke. Ohne aus seinem Kreis im Kreis herauszutreten, berührt er mit der brennenden Spitze den Holzkäfig auf dem Altar.
    Der Käfig fängt sofort Feuer, und innerhalb von zwei Atemzügen ist er verbrannt, die glühenden Überreste fallen auf die Taube im Salzkreis, und der Geruch versengten Gefieders breitet sich aus, als der kleine Kadaver Feuer fängt. Plötzlich sah ich nicht mehr den Magier vor mir, sondern die Kate, in der ich geboren wurde, und darin meine hochschwangere Mutter, die auf frischen Strohbündeln hockt. Sie war unglaublich jung, jünger als ich jetzt. Sie schrie laut vor Wehenschmerz, aber auch vor Furcht und Zorn auf Noni, die neben ihr kniete. Und dann holte meine Mutter aus und schlug mit einer wilden Kraft, wie Maman sie nie zuvor und auch nie danach besessen hat, meine Großmutter zu Boden.
    Noni fiel auf die Seite und stieß mit der Schulter gegen die kleine Lampe, die neben ihr auf dem strohbedeckten Boden stand. Ich sah, wie das Feuer sich auf dem Öl ausbreitete, das sich über das Stroh am Boden ergoss und über die dunklen Röcke meiner Großmutter auf die Strohbündel zulief, auf denen meine Mutter mich unter Schmerzen gebar. Bei diesem Anblick musste ich an den kleinen Käfig denken, der zu glühenden Kohlestückchen auf dem schwelenden Kadaver der Taube verglomm. Tod, durchfuhr es mich, aus dem Tode anderer zieht er also seine Macht. Kein Wunder, dass er dachte, er habe gewonnen, als Noni starb. Wie bitter musste es für ihn gewesen sein, dass diese Macht nicht ihm, sondern mir zuteil wurde.
    Kein Wunder also, dass er mich und meinen Geliebten verfolgte. Er war demnach nicht so sehr von dem Wunsch besessen, sich an Ana Magdalena zu rächen, ihn trieb vielmehr die Gier nach unserer unendlichen Macht.
    »Genug«, befahl Geraldine, und ich kam innerhalb des Kreises wieder zu mir.
    »Nun hast du deinen Feind gesehen, wie er in der Vergangenheit war«, erklärte die Äbtissin. »Und du wirst ihn so lange sehen, bis du stark genug bist, dich ihm in der Gegenwart zu stellen.«
    Ich beobachtete ihn also wieder, in anderen Kreisen in anderen Nächten. Ich verfolgte den Magier bei einem Dutzend Ereignisse; es waren durchweg Vorkommnisse, die meinen Tod bedeutet hätten, wenn Noni nicht eingegriffen hätte. Er war nicht nur am Werk gewesen, als Maman meinem Papa das Amulett vom Hals nahm, bevor er an der Pest starb, sondern auch, als Maman das Siegel Salomos am Hals der Puppe entdeckte und Noni an die Büttel der Kirche verriet.
    Im Kreis und in meiner Zelle, stets im Schutz meiner weiblichen Ritter, lernte ich mich im Geiste zu versenken, nicht über das Kreuz oder andere geheiligte Gegenstände, wie man es den Klosterinsassen sonst beibringt, sondern über die Göttin. Ich versenkte mich, bis ich einen Zustand tiefster Ruhe erreicht hatte.
    In ebendiesem Zustand übte ich, Ihre Heilkraft mit meinem Willen zu steuern, und obwohl es sich leicht anhört, so war es doch ein langwieriger und schwieriger Prozess. Während nicht wenige Kranke bereitwillig meine noch ungeübte heilende Hand spüren wollten, lehnte es Jacques ab, sich noch weiter heilen zu lassen. »Ein paar Leprakranke müssen bleiben, sonst fangen die Leute an zu reden und werden misstrauisch«, begründete er seine Entscheidung. »Und wenn es schon Leprakranke geben muss, dann lasst mich einer unter ihnen sein. Ich werde Euch gewiss nicht weniger dienen, Herrin, so lange Gott und die Göttin mich am Leben lassen.«
    Allmählich lernte ich, meine

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