Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
einem See in Galiläa, einem Land, in dem die Löwen frei umherstreiften. Sie wurde von allen sehr geschätzt und hatte den Beinamen >die Aufmerksame< der auf ihre besondere Gabe zurückging. Sie vermochte nämlich viel weiter zu sehen als alle anderen.
Und sie wusste, dass Er, der Gott, das Fleisch geschaffen hatte, denn Sie, die Göttin, war ihm ebenbürtig. Sie beide waren Mutter und Vater des Geschlechts. Sie hatten nur die eine gemeinsame Bestimmung, der Menschheit beizustehen, Mitgefühl zu lehren und all jene zu führen, die ihr Blut und ihre Gaben teilten, um es ihnen gleichzutun. Doch bald standen sie vor einer Gefahr, da einige eifersüchtig auf ihre Macht und ihren Einfluss auf die Menschen waren. Das Böse erhob sein Haupt und verkündete, alles, was sie gesagt hätten, sei gottlos, dann versuchte es, sie beide zu vernichten.
Mein Los ist es nicht nur, Euch vor eben diesem Bösen zu warnen, das die höchste Magie gestohlen hat und sie jetzt missbraucht, um Euch beide davon abzuhalten, Eure gemeinsame Bestimmung zu finden, sondern auch, Euch zu lehren, wie man die Kräfte, über die Ihr nun verfügt, entdeckt und vervollkommnet.
In jeder Generation wird das Muster wiederholt. Die beiden Auserwählten müssen sich finden und sich zu einem einzigen Zweck vereinigen: das Böse zu besiegen, das sie bekämpft. Im Laufe der vergangenen Generationen ist Euer Feind stärker geworden, weil einige, die heiliges Blut und heilige Kräfte besitzen, zum Bösen übergelaufen sind. Die Gefahr, vor der Ihr steht, ist in der Tat groß. Denn Ihr und Euer Herr müsst Euch nicht nur dem eigenen Tod stellen, vielmehr geht es um die vollständige Auslöschung unseresgleichen. Sie hat zum Ziel, alle Menschen dieser Erde ohne jegliche Hilfe einer hoffnungslosen Gegenwart und Zukunft zu überlassen, die mit Krieg und Hass erfüllt ist.« »Ihr alle hier seid also Templer?«, fragte ich ungläubig.
Sie lächelte. »Ja, Herrin. Wir Frauen tragen allerdings weder Schwert noch Lanze, da unser Kampf in anderen Bereichen stattfindet. Auch hätten wir als Frauen niemals der Armen Ritterschaft Christi vom Salomonischen Tempel angehören können. Die Männer, die wie wir dem Herrn und der Herrin dienten, hatten dagegen einen inneren Zirkel der Templer gegründet und wurden für ihren Glauben verfolgt. Wir haben uns den gleichen Namen gegeben, da wir mit ihnen dienen. Ihre Aufgabe war es, den Herrn zu schützen und zu lehren, wir taten es ihnen nach - mit der Herrin. Als der Orden offiziell zerschlagen war und die Männer hingerichtet wurden oder nach Norden flohen — außer ein paar wenigen, deren Verbindung zu den Templern nie entdeckt wurde -, blieben wir Frauen übrig. Wer sollte uns schon verdächtigen, dem inneren Zirkel anzugehören? In den tausend Jahren vor dieser Zeit nannten wir uns übrigens einfach nur die Jünger.
Bei einigen von uns sind die Gaben besonders stark ausgeprägt - das Zweite Gesicht, die heilenden Hände, Traumvisionen und vieles mehr -, doch die meisten anderen, die weniger begnadeten, glauben an die Sache und wollen, so gut sie eben können, der Göttin dienen. Schwester Habondia zählt auch zu ihnen. Sie stellt all ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten zur Verfügung, und, wie Ihr gewiss schon bemerkt habt, ihre besondere Gabe, sich zu verstellen.« »Aber ich bin keineswegs anders als Ihr«, entgegnete ich. »Ihr kennt die Göttin besser als ich, Ihr seid viel mächtiger als ich. Ihr wusstet etwa, dass ich kommen würde, ich hingegen war mir nicht einmal sicher, ob Ihr mich nicht betrogen hattet.«
Mit feierlichem Ton erwiderte sie: »Weit gefehlt, Herrin. Ich besitze nicht die Spur Eurer Macht, oder besser, der Macht der Göttin. Begreift Ihr denn noch immer nicht, was mit dem Tod Eurer Großmutter geschah? Bei Eurer höheren Weihe?«
Die Erinnerung an jenes Ereignis trieb mir Tränen in die Augen, doch ich beherrschte mich. »Ich weiß ... ich spürte die Gegenwart der Göttin stärker als je zuvor. Ich habe erkannt, dass ich die Macht der heilenden Hände empfing.«
»Ihr habt noch weit mehr empfangen.« Geraldine hielt inne, neigte fast unmerklich den Kopf, sodass ihr schwarzer Winterschleier die ausgeprägten Wangenknochen bedeckte und anmutig über ihren kantigen Kiefer fiel. Ihr Blick ruhte auf mir, doch zugleich schaute sie durch meinen Körper hindurch und erblickte in meiner Seele etwas Tiefes und Großartiges. Ihre Züge wurden weich, und plötzlich fiel mir die hölzerne
Weitere Kostenlose Bücher