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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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abgespielt. Durch den Bischof und Pater Roland erfuhren wir, dass Edward, der Schwarze Prinz, in Bordeaux eingefallen war. Er und seine Armee begnügten sich jedoch nicht damit, die Einwohner niederzumetzeln: Sie verwüsteten die Stadt und sämtliche Ortschaften vor den Toren, schlachteten Schweine und Rinder ab, vernichteten Getreide, Bäume, Weingärten und setzten Felder und Gebäude in Brand. »Das gesamte Land«, hatte uns Vater Roland eines Tages vor der Messe erzählt, »ist schwarz und vernarbt, und die armen Überlebenden müssen nun verhungern. Sie haben nicht einmal Brot, weil Edward auch die Mühlen und Kornspeicher gebrandschatzt hat. Und das alles nur, weil sie dem französischen König treu geblieben sind.« Als meine Schwestern erfuhren, dass Edwards Armee nach Südosten auf Toulouse zumarschierte, dann auf Carcassonne, machten sie sich die größten Sorgen. Die Tatsache, dass wir in einer religiösen Gemeinschaft lebten, hätte uns zwar schützen sollen, zumindest wäre dies vor hundert Jahren der Fall gewesen. Doch in diesen ruchlosen Zeiten hatte der Respekt vor Nonnen und Mönchen dermaßen abgenommen, dass man uns wahrscheinlich wie alle anderen im Krieg umbringen und uns Gewalt antun würde.
    Mit jedem Besuch Vater Rolands, der täglich unser Abendmahl zelebrierte, sorgten wir uns mehr. »Sie haben die Provinz Armagnac eingenommen«, wurde zu: »Sie sind in Guienne angekommen«, kurz darauf hieß es schon »Sie sind nach Toulouse aufgebrochen«. Toulouse wurde rätselhafterweise verschont, und Vater Roland würdigte diese Tatsache mit einer besonderen Dankesmesse, offensichtlich war er der Ansicht, wenn Edward sich nicht der reifen, süßen Pflaume Toulouse bemächtigte, würde er sicher auch der sauren Traube Carcassonne keinen Ärger bereiten.
    Im Übrigen war unsere Stadt gut geschützt: Die Oberstadt war auf einem Berg errichtet und durch eine doppelte Ringmauer geschützt. Die innere wurde vor beinahe tausend Jahren von den Westgoten errichtet, und die äußere war knapp ein Jahrhundert alt. Unser Kloster lag zwar in der Unterstadt, die lediglich durch einfache Holzpalisaden bewehrt war, doch der Ruf jener Mauern sollte gewiss ausreichen, die Engländer abzuschrecken. Zumindest dachten das die meisten Einwohner, was dazu führte, dass keinerlei Vorkehrungen getroffen wurden. Marie Magdeleine sprach oft mit mir darüber und deutete zaghaft die Frage an, was ich wohl hinsichtlich der Invasion voraussähe. Ich blieb jedoch eine Antwort schuldig, denn ich war zu zerstreut, um ihr Beachtung zu schenken.
    Nach fünf Jahren harter Ausbildung bei Mutter Geraldine versagte ich immer noch bei der Aufgabe, den Anblick meines zukünftigen Feindes zu ertragen, außerdem war ich erfüllt von der zunehmenden Gewissheit, dass mein Geliebter mehr denn je durch einen Angriff dieses Feindes gefährdet war. Wie sollte ich ihm helfen, wenn ich ihn nicht einmal genau vor mir sah? Das Gerede über den Krieg und die drohenden Engländer bedeutete mir wenig, und ich verwendete keine Energie, keinen Gedanken darauf, dass sie tatsächlich eintreffen könnten.
    Eines Tages, gegen Ende der Messe, flog die Kirchentür mit einem entsetzlichen Knall auf. Wir sangen gerade das wunderschöne Nunc Dimittis und erschraken so sehr, dass wir abrupt verstummten.
    Die Tür traf so heftig auf den Stein, dass das schwere Holz in der Mitte splitterte. Einer der Laienbrüder, der Schäfer Andrus, stürmte bis in die Mitte des Allerheiligsten und sank auf die Knie, allerdings nicht aus Achtung, sondern eher vor Aufregung. Als Vater Roland, der Chor und die anderen Nonnen ihn erstaunt anschauten, rief er: »Die Engländer! Sie sind da! Der Herr steh uns bei! Sie sind da!«
    Ein Raunen ging durch die Versammlung, woraufhin Mutter Geraldine aus dem Chorraum trat und mit erhobener Hand Schweigen gebot. Dann wandte sie sich um und nickte der Chorleiterin zu.
    Erneut stimmten die Sängerinnen das Nunc Dimittis an, mit festerer Stimme jetzt und höher als zuvor: Herr, lasse deinen Diener nun in Frieden scheiden ... Diesmal wurde die Liturgie zu Ende gebracht, und nachdem Vater Roland uns seinen hastigen Segen erteilt hatte, rannte er in vollem Ornat aus der Kirche, während wir Nonnen in üblicher, geordneter Formation hinter der Äbtissin hinausschritten.
    Die Engländer drangen stetig über die Hügel vor, es waren insgesamt mehr als fünftausend Mann: Lanzenträger, Fußvolk und die allenthalben gefürchteten Bogenschützen mit ihren

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